Medienzeit - Eine Einleitung

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"Medientheorie als Einsicht in das Wesen von Medien verlangt nach der Einführung von Zeit als Kriterium ihrer Betrachtung."[1]


In Immanuel Kants "Transzendentale Ästhetik" gibt es zwei reine Formen, die allen sinnlichen Anschauungen zugrunde liegen. A priori gehen diese alle anderen möglichen Anschauungen voraus und liegen aller Erkenntnis zugrunde.[2] Diese beiden reinen Formen sind Raum und Zeit. Mit der technischen Beschleunigung wird der Begriff des Raums als "Ent-Fernung" des Raums maschinell geerdet. Raum wird plötzlich relativ. Auch das Absolut der Zeit wird technisch hinterfragt. Technischen Aufzeichnungs- und Wiedergabemedien ist es möglich, zeitliche Entfernung aufzuheben und Sprache, Musik, Bild und Bewegung in einer unheimlichen Präsenz zu erzeugen.[3] Damit werden Raum und Zeit als Aprioris mit einem technischen Index versehen und durch den Einsatz von Messmedien und mathematischer Analysis definierbar.[4] Diese nicht menschlichen Formen der Wahrnehmung sorgt für eine Konkretisierung des A prioris, "als Eigenzeit der Apparate."[5] Unsere Wahrnehmungen von Raum und speziell der Zeit werden hochgradig apparativ redefiniert.

Laut Norbert Elias haben sich die kulturellen Zeitmuster von "diskontinuierlichen, punktuellen situationsbezogenen Norm(en) des Zeitbestimmmens in Richtung auf eine zunehmende enger geknüpften kontinuierlichen Zeitraster von hoher Allgemeinheit"[6] verändert. Damit ein Individuum sich von einem kontinuierlichen Fluss der Zeit lösen kann, auch um ein Zeitbewusstsein zu erzeugen welches über sich selbst hinausreicht, benötigt es eine Korrelation mit etwas außerhalb seiner selbst. Das Individuum benötigt eine Form von Messbarkeit der Zeit. [7] Erst die Technik gibt dem Menschen die Zeit - Uhrzeit. Zeit über dem individuellen Zeitempfinden hinaus, ausgebrochen aus der erlebbaren Zeit, hängt am Stand der jeweiligen medialen Kulturtechniken.[8]

Neben dem Hinterfragen von Raum und Zeit ist die Zeitwahrnehmung des Menschen per se schon immer medieninduziert. Der Zeitsinn des Menschen und die diskrete Zeit muss durch Medien rückgekoppelt sein, um produktiv gemacht zu werden. Erst technische Medien geben dem Menschen ein Gefühl für die diskrete Zeit und ermöglichen ihm neue Formen der Zeitsouveränität. In ihrer technischen Eskalation ist die Zeit mittlerweile nur noch auf kleinstatomarer Ebene mittels Caesiumatom und dessen Periodendauer einer Schwingung mit der Natur als Atomuhr gekoppelt.

Technische Medien rufen beim Menschen Zeitaffekte hervor und eröffnen neue Zeitweisen. Gleichzeitig sind diese Medien und ihre Prozesse selbst zeitkritisch. So stellen sich Medien nicht nur als ein Produkt der Zeit dar, "sondern bilde[n] zugleich ihrerseits dilatorische Zeitformen aus; technische Medien operieren differenziell gegenüber der von Menschen individuell erfahrenen Zeit, indem sie ihrerseits signifikante und prozessuale Zeitverhältnisse setzten."[9]Schlüsselt man, mit Friedrich Kittler, die drei Medienfunktionen Speichern, Übertragung und Prozessieren auf, so haben alle eines gemeinsam: sie benötigen Zeit und agieren mit und in der Zeit "Das Dasein technischer Medien entbirgt sich im Moment ihres konkreten Vollzugs. Tätige Medien sind nicht, sie zeitigen."[10] Sie werden erst in ihrem Zeitvollzug operativ. Dabei zeugen die Medienfunktionen von unterschiedlichen Weisen mit und in der Zeit.

Speichermedien nehmen Augenblicke oder zeitliche Abläufe und ermöglichen durch Veräumlichung Zeit hinter sich zurückzulassen und zu anderen Zeitpunkten wieder zu re-aktualiseren. Eine Irritation des menschlichen Zeitsinns, die das Zeitvergehen nicht nur aufzuheben scheint, sondern mit der radikalen Gegenwärtigkeit elektrischer und elektronischer Medien Zeitvergehen medientechnisch tatsächlich aufhebt und Signale und Information vergegenwärtigt - Geisterstimmen.[11] Statt der Einmaligkeit der ephemeren Momente können sie mit z.B. dem Phonographen wiederholbar und reproduzierbar, zu beliebigen Zeiten re-aktualisert werden und zwar in ihrem mikrotemporalen Verlauf. Übertragungsmedien schaffen durch Verzeitlichung die Überbrückung von Raum. So ermöglichen elektromagnetische Wellen und und Signale Live-Übertragungen in Lichtgeschwindigkeit. Prozessieren und Prozesse sind grundsätzlich zeitgebunden. Prozessieren als eingreifende Veränderung wird überhaupt erst sichtbar, wenn Zeit vergeht. Beim Prozessieren können Medien über die Zeitachse selbst disponieren: "Auch wenn sie selbst eine Zeitachse haben, koppeln sie diese ab von den Zwängen der tatsächlichen Zeit."[12] Das Prozessieren am Computer wird nur in soweit wieder von der Zeit eingeholt, als dass das Schalten auch Zeit verbraucht. Durch den Zeitvollzug wird das Prozessieren wieder ans Zeitreal gekoppelt.[13] Festzuhalten bleibt, Medien, die speichern, übertragen und prozessieren, brauchen immer Zeit, auch wenn sie es schaffen, der Zeit selbst zu entfliehen. Dabei oszillieren die Medien zwischen der Veräumlichung und der Verzeitlichung.

Neben der durch Medien ausgelösten Zeitwahrnehmung des Menschen und der eigenen Temporalität der Medien mit ihren zeitkritischen Prozessen deuten die Medien selbst auf Zeitformen hin, die außerhalb einer historischen Zeitempfindung stehen. Schon die Existenz der technischen Medien und der Frage nach deren Historizität deutet auf Zeitmodelle, die eine "medieninduzierte Alternative zur Mediengschichte selbst"[14] darstellen. Zeitfiguren wie die der Rekursion und der Gleichursprünglichkeit versuchen medientechnisches Wissen differenziert darzustellen; mithilfe einer zeitlichen, ganz medieneigentümliche Weise, different von der medienhistorischen Erzählung. Technische Medien existieren nicht nur diskursiv, sondern haben auch einen Ursprung in der materiellen Wirklichkeit.


Textverweise


  1. Wolfgang Ernst, Chronopoetik. Berlin Kadmos 2012, S. 297.
  2. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in : Immanuel Kant , Werke in zehn Bänden. hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, S.71, zitiert nach Wolfgang Ernst, Präsenzerzeugung.
  3. vgl. Wolfgang Ernst, Wie Medienarchive unseren Zeitsinn ergreifen. Wie Medienarchive unseren Zeitsinn ergreifen. Vortrag für das Symposion „Es ist Jetztzeit“ im Künstlerhaus Wien im Rahmen der Ausstellung „zeitraumzeit“ Oktober 2008 S.3
  4. vgl. ebd.
  5. ebd.
  6. Norbert Elias, Über die Zeit. Frankfurt 1988, S.69.
  7. vgl. Trude Ehlert, Einleitung In: Zeitkonzeptionen, Zeiterfahrung, Zeitmessung. Zürich Schöningh 1997S.IX
  8. vgl. Götz Großklaus, Medien-Zeit Medien-Raum. München Suhrkamp 1995, S.7 ff.
  9. Wolfgang Ernst, Gleichursprünglichkeit. Kadmos Berlin S.11.
  10. Wolfgang Ernst, Chronopoetik. Kadmos Berlin S.11.
  11. vgl. Wolfgang Ernst, Gleichursprünglichkeit. S.16.
  12. Hartmut Winkler, Prozessieren. München Wilhelm Fink Verlag 2015 S.301.
  13. vgl. Wolfgang Ernst, Chronopoetik. S.299
  14. Wolfgang Ernst, Chronopoetik. S.17.