Zeitsinn

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Begriff


Als Zeitsinn wird die Fähigkeit bezeichnet, Zeitunterschiede festzustellen.


Medienwissenschaftliche Perspektive


"Die Wahrnehmung von Zeitunterschieden mittels unserer Sinne ohne Anwendung künstlicher Hülfsmittel ist keine sehr feine, namentlich dann nicht, wenn die beiden Vorgänge, deren Zeitunterschied bestimmt werden soll, von verschiedenen Sinnesorganen, also z. B. der eine vom Auge, der andre vom Ohr, oder selbst nur von verschiedenen Parthien desselben Organs z. B. im Auge an verschiedenen Stellen des Gesichtsfeldes aufgefaßt werden."[1]


Für den Menschen gibt es unabhängig technischer Hilfsmittel keine Möglichkeit, Zeit wahrzunehmen. Es gibt keinen menschlichen Zeitsinn. Jedoch ein biologisches Zeitempfinden, die biologische Uhr, den Biorhythmus. Hier dient natürliches Licht als Zeitgeber zur Anzeige des Tag-Nacht-Zyklus'. Der Wechsel zwischen Tag und Nacht und die Wahrnehmbarkeit dessen ist die erste zeitliche Orientierung für das Dasein.[2] In einem diskreten, abgegrenzten und kleinteiligen Bereich gibt es diese Wahrnehmung nicht. Zeitunterschiede, Zeitintervalle können jedoch nur mithilfe von Taktgebern (Pendeln, Uhren etc.) "wahrgenommen" - also ausgewertet - werden. Den Zeitsinn hat in diesem Fall die Technik. Hier ist dieselbe das tatsächliche Medium - der Mittler, das "Dazwischen" - zwischen Mensch und Natur. Zeitgebende bzw. -anzeigende technische Medien ermöglichen den Zugang zur Zeit. In diesem Sinne existiert eine "reale" Zeit nur durch medieninduzierte Zeit, denn nur in Relation zur erschaffenen, künstlichen, diskretisierten Zeit wird die natürlichen Zeit erfassbar.
Die Berliner Medienwissenschaft liegt hier ganz nah an einem naturwissenschaftlichen Blick: "Der naturwissenschaftliche Blick steht dem medienarchäologischen insofern nah, als er den aus der Funktion sich ergebenden Zeitweisen Vorrang einräumt gegenüber ihrer Ableitung aus der sogenannten historischen Zeit."[3]. Zeitweisen und Zeitunterschiede werden erst durch Technik erfahrbar. Die Uhr ist also nicht einfach im Sinne einer "extension of man" nach Marshall McLuhan zu betrachten, sondern als Zugang zu einer sonst nicht wahrnehmbaren Einheit. Erstens bedeutet das auch, dass Strukturierungen oder Einteilungen auf temporaler Ebene zur Durchführung von Aufzeichnungs-, Speicher- und Übertragungsprozesse nur mit technischer Hilfe möglich sind (siehe Takt, Uhrzeit oder Pendel). Das zweite Fazit, das sich ziehen lässt ist, dass wir die natürliche Zeit nur durch Medien und somit als Medienzeit wahrnehmen.[4]

Medienwissenschaftlich ist der Zeitsinn vor allem in Bezug auf den Unterschied zwischen Mensch und Computer interessant. Hierbei wird die Reaktionszeit bedeutend. Sie ist letzendlich die Größe, die in Synchronisations- und Kommunikationsprozessen relevant ist, um Mensch und Computer miteinander in Verbindung zu bringen.
Es stellt sich nun offensichtlich die Frage, ob (rechnende) Maschinen über einen Zeitsinn verfügen. Und richtet man sich nach der oberen Definition, so haben Computer nicht nur einen Zeitsinn, sondern ihre ganze Funktionsweise basiert auf diesem. Jede Operation, jeder Rechenschritt, jede Umwandlung und Übertragung basiert auf der Feststellung und Messung von Zeitunterschieden. Kleinste Zeitintervalle bestimmen den Ablauf aller Rechenprozesse. Der Taktgeber ist das zentrale Organ dieser Wahrnehmung. Hier entsteht gewissermaßen jeder zeitkritische Moment der Abläufe.


Artefakte


Taktgeber, (Sonnen)uhr


Weiterführendes


Zur menschlichen Wahrnehmung der Zeit ist aus philosophischer Sicht vor allem Martin Heideggers Werk "Sein und Zeit" zu empfehlen. Heideggers Ansätze zur Weltzeit und zur vulgären Zeit spielen in vielen medienwissenschaftlichen Betrachtungen eine Rolle.


Textverweise


  1. Hermann von Helmholtz: Ueber die Methoden, kleinste Zeittheile zu messen, und ihre Anwendung für physiologische Zwecke. In: Königsberger Naturwissenschaftliche Unterhaltungen. Königsberg 1848. S. 170.
  2. vgl. Martin Heidegger (1927): Sein und Zeit. Tübingen 2001. S. 412.
  3. Wolfgang Ernst: Chronopoetik: Zeitweisen und Zeitgaben technischer Medien. Berlin 2013. S. 229.
  4. vgl. Wolfgang Ernst: Chronopoetik. S. 230.