§8

Aus Hieroglyphisch-Ägyptische Grammatik

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Funktion von Klassifikatoren

(1) Für den Leseprozess haben Klassifikatoren zwei wichtige Funktionen:

(a) Generell werden im hieroglyphischen Schriftsystem ja nur die Konsonanten geschrieben (§3 (2)). Unterschiedliche Wörter, die zwar unterschiedliche Vokale hatten, aber dieselbe Konsonantenfolge, wurden im hieroglyphischen Schriftsystem konsequenterweise nicht selten gleich geschrieben. Klassifikatoren helfen dem/der Lesenden, die Wörter trotzdem unterscheiden zu können (Disambiguierung). Vergleiche (𓃹𓈖 steht in jeder der Wortschreibungen für wn):

Schreibung Transkription Klassifikator Bedeutung
𓃹𓈖𓉿 wn 𓉿 : Kategorie [Tür] ‘öffnen’
𓃹𓈖 wn (ohne Klassifikator) ‘war’
𓃹𓈖𓁸 wn 𓁸 : Kategorie [Haar] ‘kahl werden/sein’
𓃹𓈖𓂻 wn 𓂻 : Kategorie [Fortbewegung] ‘vorübergehen, übergehen’
𓃹𓈖𓅪 wn 𓅪 : Kategorie [negativ] ‘Fehler, Schuld’

Klassifikatoren in dieser Funktion beziehen sich jeweils auf das Wort im (mentalen) Wörterbuch, nicht auf das Wort im Satzkontext. So ist es z.B. trotz der Schreibung des Wortes 𓃹𓈖𓉿 wn ‘öffnen’ mit dem Klassifikator [tür] in einem konkreten Satz unerheblich, ob der Text von der Öffnung einer „Tür“, einer „Truhe“ oder eines „Auges“ spricht. Wir wollen dabei von „lexikalischen Klassifikatoren“ sprechen (E. S. Lincke, F. Kammerzell).

Lexikalische Klassifikatoren sind zur korrekten Identifizierung von Wörtern, z.B. im Wörterbuch, ebenso wichtig wie der lautliche Teil der Schreibung. Aber auch das „Fehlen“ von Klassifikatoren kann ein wichtiger Hinweis sein. Bestimmte Wörter wurden nämlich regelmäßig ohne Klassifikator geschrieben. (Solche Wörter gehören meist zum besonders häufigen Basisvokabular.) Es konnten zwar auch eigentlich mit Klassifikatoren geschriebene Wörter optional vom Schreiber ohne Klassifikator geschrieben werden; dies war aber aus nahe liegenden Gründen nicht sehr üblich. Wörter, die ohne Klassifikator geschrieben sind, sind daher zwar nicht immer, aber doch meistens mit dem Wort zu identifizieren, das gemäß Wörterbuch regelmäßig ohne Klassifikator geschrieben wird.

(b) Im hieroglyphisch-ägyptischen Schriftsystem werden Wörter und Sätze ohne Leerstellen oder Satzende-Zeichen hintereinander weg geschrieben. Das sich ergebende Problem der Worttrennung wird unter anderem dadurch abgemildert, dass Klassifikatoren immer am Wortende stehen. Identifiziert der/die Lesende einen Klassifikator (oder eine Kette von Klassifikatoren), hat er/sie damit gleichzeitig einen Hinweis darauf, dass ein Wortende erreicht ist.

Beispiel:

𓋴𓍯𓄿𓎛𓎝𓏛𓐍𓈖𓌰𓅓𓋴𓀉𓏛𓅓𓄚‌𓈖𓏌‌𓅱𓉐
zerfällt in die Wörter:
𓋴𓍯𓄿𓎛𓎝𓏛, 𓐍𓈖𓌰𓅓𓋴𓀉𓏛, 𓅓und 𓄚‌𓈖𓏌‌𓅱𓉐.


(2) Vergleichsweise selten beziehen sich Klassifikatoren aber doch nicht auf das Wort im (mentalen) Wörterbuch („lexikalische Klassifikatoren“), sondern auf die Wortbedeutung im konkreten Satzkontext, genauer gesagt, auf den Referenten des Wortes im Kontext. Wir wollen von „Referenten-Klassifikatoren“ (D. A. Werning, E.-S. Lincke) sprechen. Ein Referenten-Klassifikator kann entweder zusätzlich oder anstelle des lexikalischen Klassifikators stehen.

Beispiele:

𓉻𓂝𓄿𓏜 ꜥꜣ mit lexikalischem Klass. 𓏛 [immateriell] ‘groß, großer’
𓉻𓂝𓄿𓏜𓆙
𓉻𓂝𓄿𓆙
ꜥꜣ mit/ohne lexikal. Klass. 𓏛 [immateriell]
mit Referenten-Klass. 𓆙 [Schlange/Wurm]
‘Großer’ (bezieht sich im
Kontext auf eine Schlange)
𓌢𓈖𓀀 sn mit lexikalischem Klass.𓀀 [Mann] ‘Bruder’
𓌢𓈖𓀭 sn mit Referenten-Klass. 𓀭 [Gott] ‘Bruder’ (bezieht sich im
Kontext auf einen Gott)

Da Referenten-Klassifikatoren an die konkrete Verwendung eines Wortes im Text gebunden sind, sind sie in Wörterbüchern in der Regel nicht verzeichnet.


(3) Gelegentlich beziehen sich Klassifikatoren nicht nur auf ein einzelnes Wort, sondern auf eine zusammengehörige Sequenz von Wörtern, d.h. auf ganze Phrasen. In diesen Fällen sprechen wir von „Phrasen-Klassifikatoren“ (D. Werning, E.-S. Lincke, F. Kammerzell). Oft, aber nicht immer, handelt es sich dabei um Referenten-Klassifikatoren. Im folgenden Beispiel bezieht sich ein Klassifikator auf einen aus mehreren Wörtern bestehenden Namen bzw. dessen Namensträger:

𓇋‌𓈖𓊪𓏲𓃢𓐍𓂝𓏲‌𓏛𓈖𓀀 (Bauer R 1.1)
j-n-p-w-Anubis–ḫ:ḫw:w-immateriell-nMann
Ḫw(j).n-Jnpw (zur Umstellung der Wörter vgl. §27)
‘(Name eines Mannes:) Hui-en-Inepu
Vgl. auch das Beispiel in §60.

Literaturhinweise

Werning (2010, 2011b); Werning (2011, I: §§3–8); Lincke (2011); Lincke & Kammerzell (2012); Werning (Classifiers, in Vorbereitung).

Siehe Bibliographie (teilweise mit Links zu online verfügbaren Werken).


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Daniel A. Werning. 14.5.2018. "§8", Digitale Einführung in die hieroglyphisch-ägyptische Schrift und Sprache, Humboldt-Universität zu Berlin, http://hdl.handle.net/21.11101/0000-0007-C9C9-4?urlappend=index.php?title=%C2%A78%26oldid=168 (Zugriff: 1.12.2024).

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