§46

Aus Hieroglyphisch-Ägyptische Grammatik

Wechseln zu: Navigation, Suche
← zurück §45 weiter §47 →

Negierte Verbalsätze

(1) Formen der Negation

Es gibt zwei verschiedene Negationsmorpheme zur Negation von Verbalsätzen, die im Mittleren Reich systematisch verschieden geschrieben und benutzt werden:

Transkription Schreibung Negation von
n(j) 𓂜;
𓈖 (in
hierat.
Texten)
Perfektiv n(j) sḏm⸗f ‘er hörte nicht, er hat nicht gehört’
Anterior n(j) sḏm.n⸗f (besondere Bedeutung; dazu (3) unten)
Imperfektiv **n(j) sḏm⸗f (nicht sicher belegt)
Posterior n(j) sḏm(.w)⸗f ‘er wird nicht hören’
nn 𓂜𓈖 Subjunktiv nn sḏm⸗f ‘er wird/soll/will/möge nicht hören’

(Die folgende Anmerkung kann ggf. zunächst übergangen werden.)

Anmerkung: In altägyptischen Texten ist die Schreibung der zwei Negationen noch anders geregelt; und im nach-klassischen Mittelägyptisch des Neuen Reiches geht der Gebrauch der zwei Negationen fallweise durcheinander (Werning 2011, I: §101, Werning 2013: §14).

Transkription Schreibung
im AR
Schreibung
im MR
Gebrauch
im NR
n(j) 𓂜 𓂜, (𓈖) 𓂜, 𓂜𓈖
nn 𓂜, 𓂜𓈖, 𓈖𓂜, 𓈖 𓂜𓈖


(2) Konstruktionen

Die Negation steht immer direkt vor der Verbalform. In aller Regel steht davor keine (weitere) Satzpartikel.

Beispiel:
[Negation] [Verbalform] [Aktanten: Subjekt und ggf. Objekte]
𓂜 𓂋𓂞 𓇋𓏏𓆑𓀀 𓏏𓏐𓏒 𓈖 𓅐𓏏𓁐
n(j) rḏ(j) jt(j) n mʾw.t
neg geben:pfv Vater:m.sg Brot:m.sg dat Mutter:f.sg
‘Der Vater gab der Mutter das Brot nicht.’
‘Der Vater hat der Mutter das Brot nicht gegeben.’


Werning-Einfuehrung-2015-§46 2.png



(3) Besonderheiten bei der Bedeutung

Entgegen der Erwartung hat der negierte Anterior n(j) sḏm.n(⸗f) keine Vergangenheitsbedeutung! Die Bedeutung von n(j) sḏm.n⸗f ist vielmehr ‘Er hört generell nicht’, ‘Er kann nicht hören’, oder einfach ‘Er hört nicht’. Hier wird negiert, dass der ganze Vorgang überhaupt abläuft, d.h. er läuft generell nicht ab (und wird auch nicht ablaufen).

(Die folgende Erläuterung kann ggf. zunächst übergangen werden.)

Zusatzerläuterung:

Es gibt noch einige wenige andere Sprachen, in denen eine Verbalform, die sich nicht-negiert auf die Vergangenheit bezieht, im negierten Fall keinen Vergangenheitsbezug mehr hat: Beja (Kuschitisch, Afroasiatisch) und Tunica (isoliert; U.S.A.). Der Effekt erklärt sich folgendermaßen: Die in Frage stehende Verbalform ist im Kern eigentlich keine Vergangenheitsform im eigentlichen Sinne. Sie markiert nicht die Zeitlage („Tempus“ i.e.S.) der Aussage, sondern sie markiert den sog. „Aspekt“, genauer „Phasen-Aspekt“, einer Aussage als „perfektiv“. „Perfektiv“ bedeutet, dass sich die Aussage betont auf die Handlung als Ganzes bezieht, von Anfang bis – ausdrücklich auch – Ende. Die wichtigsten Phasen-Aspekte sind:

Aspekt Prozessphase Schematisch
<  >: Prozess
[   ]: betrachtete Phase
Übersetzungsbeispiele
(im Deutschen muss man
den Sachverhalt umschreiben)
inchoativ Anfangsphase [<~]~~~~> begann zu machen
beginnt zu machen
wird beginnen zu machen
progressiv Verlaufsphase <~[~~]~> machte gerade; Engl. was doing
macht gerade;
Engl. is doing
wird gerade machen;
Engl. will be doing
perfektiv vollständiger
Prozess
[<~~~~~~>] machte, hat gemacht; Engl. did
macht generell/üblicherweise;
Engl. does
wird machen
kompletiv Abschlussphase <~~~~[~>] (vervollständigte)
(vervollständigt)
(wird vervollständigen)
resultativ Postphase <~~~~~~>[_____] hatte gemacht; Engl. had done
hat (jetzt) gemacht;
Engl. has done
wird gemacht haben;
Engl. will have done


Im nicht-negierten Fall ist eine perfektive Verbalform kognitiv schlecht mit der aktuellen Gegenwart vereinbar (sog. „Bounded Event Constraint“). Denn wenn eine Handlung gerade noch abläuft, ist dessen Ende gerade nicht im Fokus der Aufmerksamkeit. Daher wird man hier keine perfektive Verbalform nutzen, die ja gerade explizit auch das Ende mit in den Blick nimmt. Umkehrt kann man aber bei vergangenen Handlungen ganz natürlich etwas über den Gesamtprozess von Anfang bis Ende(!) aussagen. Eine perfektive Verbalform wird daher üblicherweise für Aussagen über die Vergangenheit genutzt (in einigen Sprachen daneben auch für die Zukunft). Wenn jedoch ausgesagt werden soll, dass eine Handlung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft niemals stattfindet, stattgefunden hat bzw. stattfinden wird (‘er hört generell nicht, er hört nie, er kann nicht hören’), kann man sich sehr wohl explizit auf die gesamte Handlung beziehen wollen. Die Kernbedeutung des Anterior sḏm.n(⸗f) kann man sich behelfsweise in etwa wie folgt vorstellen:

jw jr(j).n⸗f (ptkl) machen-von-Anfang-bis-Ende er ‘er machte, er hat gemacht’
n(j) jr(j).n⸗f nicht machen-von-Anfang-bis-Ende er er macht (generell) nicht

Bei der zweiten perfektiv-anterioren Verbalform des Ägyptischen, dem „Perfektiv“ genannten sḏm(⸗f), ist dieser Gebrauch allerdings so gut wie nie genauso zu beobachten. Vielmehr verhält sich diese Form wie, vom Deutschen her gedacht, zu erwarten.

jr(j)⸗f machen-von-Anfang-bis-Ende er ‘er machte, er hat gemacht’
n(j) jr(j)⸗f nicht machen-von-Anfang-bis-Ende er ‘er machte nicht, er hat nicht gemacht’.


Warum wird in dieser Einführung also die eine perfektive Form „Anterior“ (sḏm.n(⸗f)), die andere „Perfektiv“ (sḏm(⸗f)) genannt? Nach einer Hypothese rekonstruiert man für das Ägyptische noch vor dem Altägyptischen neben dem „Imperfektiv“ sḏm(⸗f) als perfektiver Gegenspieler zunächst noch nicht das sḏm.n(⸗f), sondern nur das sḏm(⸗f). Dieses wird dann sinnvollerweise als „Perfektiv“ bezeichnet. Das perfektiv-anteriore sḏm.n(⸗f) hätte sich dann aus der Verschmelzung einer anderen Verbalform, dem Resultativ (§70), und der Präposition n herausgebildet (Werning 2008: §8). Formen, die eine ähnliche Herkunft haben, werden oft als „Perfekt“, von sprachtypologischen ForscherInnen aber auch als „Anterior“ bezeichnet (Werning 2008: §3). Ich habe vorgeschlagen, diesem Sprachgebrauch zu folgen.


(4) Gebrauch

Das Gebrauchsmuster der Suffixkonjugationsformen nach Negation unterscheidet sich etwas von Muster im nicht-negierten Fall. Hauptsächlich liegt das a) an dem besonderen Gebrauch des negierten Anterior n(j) sḏm.n(⸗f) für generelle, tempuslose Aussagen und b) an dem Umstand, dass Aussagen über die gerade ablaufende Gegenwart fast nie in ägyptischen Texten belegt sind (über das, was vor aller Augen gerade jetzt abläuft, hat man wenig Anlass zu schreiben).

Aspekt Tempus Nicht-negiert Negiert
Vergangenheit perfektiv präterital/
anterior
sḏm⸗f (Perfektiv)
‘Er hörte.’
‘Er hat gehört.’
n(j) sḏm⸗f (Perfektiv)
‘Er hörte nicht.’
‘Er hat nicht gehört.’
jw sḏm.n⸗f (Anterior)
‘Er hörte.’
‘Er hat gehört.’
(nicht sicher belegt)
Zeitlos-
generell
perfektiv zeitlos jw(⸗f) sḏm⸗f (Imperfektiv)
‘Er hört generell.’
‘Er hört üblicherweise.’
‘Er hört gerade.’
n(j) sḏm.n⸗f (Anterior)
‘Er hört generell nicht.’
‘Er kann nicht hören.’
Gegenwärtig
ablaufend
progressiv präsentisch/
simultan
(nicht sicher belegt)
Zukunft (neutral) futurisch/
posterior
sḏm(.w)⸗f (Posterior)
‘Er wird hören.’
n(j) sḏm(.w)⸗f (Posterior)
‘Er wird nicht hören.’
sḏm⸗f (Subjunktiv)
‘Er wird hören.’
nn sḏm⸗f (Subjunktiv)
‘Er wird nicht hören.’
Modal
(z.B. Wunsch)
(neutral) (neutral) sḏm⸗f (Subjunktiv)
‘Er soll/will/möge hören.’
nn sḏm⸗f (Subjunktiv)
‘Er soll/will/möge hören.’


(Die folgende Anmerkung kann ggf. zunächst übergangen werden.)

Anmerkung zur Wissenschaftsgeschichte:

Aus indoeuropäischer Perspektive sah es damals zunächst so aus, als würden „das“ sḏm(⸗f) und das sḏm.n(⸗f) nach der Negation n(j) einfach nur die Funktionen tauschen:

jw sḏm⸗f ‘er hört    n(j) sḏm⸗f ‘er hat nicht gehört’;
Werning-Einfuehrung-2015-§46 4 Über-Kreuz-Befund.png
jw sḏm.n⸗f ‘er hat gehört    n(j) sḏm.n⸗f ‘er hört nicht’.

Dieser oberflächliche Über-Kreuz-Befund verbindet sich klassischerweise mit dem Namen des Forschers Battiscombe Gunn. Der Befund wird daher traditionell als „Gunn’schen Regel“ bezeichnet.

Wie oben erläutert, sind bei dieser scheinbaren Überkreuzung aber (i) zwei verschiedene sḏm(⸗f)s beteiligt (Imperfektiv nach jw bzw. Perfektiv nach n(j)); und (ii) die scheinbar gleiche „präsentische“ Bedeutung von jw sḏm(⸗f) und n(j) sḏm.n(⸗f) stellt sich als nicht ganz so parallel heraus, wenn man generelles Präsens und progressives Präsens präzise auseinander hält.

Literaturhinweise

Werning (2008: passim, insb. §§6.2, 8); Allen (²2010: siehe Kap. 26.29,1–2, insb. auch Kap. 18.14, 19.11,1, 20.5, 20.15, 21.5); Schenkel (⁵2012: Kap. 7.3.5 mit Abb. 7);

Siehe Bibliographie (teilweise mit Links zu online verfügbaren Werken).


Übungseinheit

Nach diesem Paragraphen können Sie Übung 10: Negierte Verbalsätze machen.



Zitieren Sie diese Version dieser Seite:

Daniel A. Werning. 26.7.2018. "§46", Digitale Einführung in die hieroglyphisch-ägyptische Schrift und Sprache, Humboldt-Universität zu Berlin, http://hdl.handle.net/21.11101/0000-0007-C9C9-4?urlappend=index.php?title=%C2%A746%26oldid=668 (Zugriff: 10.1.2024).

Kommentieren Sie diese Seite hier.

← zurück §45 weiter §47 →