Taklīf (Verpflichtung)

Aus Wege zu einer Ethik

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Der Begriff taklīf stammt ursprünglich von dem Wort kalaf (kulfa), welches Bürde oder Belastung bedeutet. In der tafiʿīl-Form bedeutet es „etwas jemanden aufbürden“. Diese Bürde wird von Gott dem Menschen durch seine Gebote oder Verbote aufgetragen. Im koranischen Kontext wird taklīf, als „eine mit Schwierigkeit (mašaqqa) ausführbare Sache“ definiert.[1] In der Methodologie des islamischen Rechts (uṣūl al-fiqh) ist der Begriff von zentraler Wichtigkeit. Hier liegt der Fokus auf der rechtlichen Verpflichtung des Menschen. In der systematischen Theologie (kalām) fällt der Begriff oft im Diskurs um die untragbare Verpflichtung (taklīf mā lā yuṭāq). Für die Ethik ist der epistemologische Diskurs um die Erkennbarkeit der Verpflichtung von großer Relevanz. Dieser Diskurs und weitere Themen bezüglich der moralischen Verpflichtung werden in den beiden genannten Disziplinen und in der adab- und aḫlāq-Literatur geführt.

Koran und Hadith

Im Koran heißt es: "Von niemand wird mehr verlangt, als er (zu leisten) vermag." (Q 2:233). Ähnlichen Versen (Q 2:286; Q 6:152; Q 7:42) ist zu entnehmen, dass Niemand zu etwas verpflichtet wird, zu dem er nicht fähig. Die Deutung dieser Verse führt zu einem wichtigen theologischen Diskurs um die untragbare Verpflichtung. Der Diskurs wird im nächsten Unterkapitel der Systematischen Theologie (Kalām) ausgeführt.

Des Weiteren wird im Koran die Eigenverantwortung des Menschen vor Gott erwähnt: "Du hast (dereinst) nur die Last für deine eigenen Handlungen zu tragen" (Q 4:84)

In den Überlieferungen vom Propheten Mohammed wird die Solidarität der Muslime untereinander thematisiert. Demnach sollen keine schwierigen Aufgaben aufgetragen werden, sondern in schwierigen Situationen einander beigestanden und geholfen werden.[2]

Systematische Theologie (Kalām)

Theologen (Kalām-Gelehrte) diskutierten im Kontext des taklīf zunächst die Verpflichtung Gottes (wuǧub ʿalā Allāh). Eine großen Dissens herrscht zwischen den Muʿtazilīten und Ašʿarīten. Die Māturidīten versuchen eine Zwischenposition zu etablieren.

Hinsichtlich der Verpflichtung des Menschen werden insbesondere drei Fragen diskutiert.

1.Erkenntnistheorie: Wie erkennen wir die Verpflichtung, die uns von Gott aufgetragen wird?

Die Frage nach der Erkennbarkeit der Verpflichtung wird anhand der Frage nach der Erkennbarkeit von Gut (ḥusn) und Böse (qubḥ) diskutiert. Frühe Muʿtazilīten sind der Auffassung, dass das Wissen bezüglich der religiösen Verpflichtung des Menschen von rationaler Natur ist. Die Vernunft alleine sei ausreichend, um die Verpflichtungen zu erkennen. Spätere Muʿtazilīten versuchten das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft auszubalancieren, in dem sie neben der Vernunft zugestanden, dass Gut und Böse auch mit der Offenbarung erkannt werden können.

Ašʿarīten vertreten die Position, dass man nur verpflichtet sein kann, wenn dazu eine Offenbarung vorhanden ist. Der Mensch allein ist nicht verantwortlich für etwas, dass er nur durch seine Vernunft erkennt als Gut oder Böse erkennt. Es bedürft für die Verantwortung einer Offenbarung, die explizit bestimmt, dass jenes Gut oder Böse ist. Was Gott befielt sei Gut und was er verbietet sei schlecht.

Māturidīten räumen der Vernunft eine größer Rolle ein, als die Ašʿarīten, jedoch sei der Vernunft grenzen gesetzt. Detailliertes Wissen hinsichtlich dem Guten (ḥusn) und Bösen (qubḥ) kann nur durch die Offenbarung erschlossen werden.[3]

2.Warum verpflichtet uns Gott?

Zur Beantwortung dieser Frage entwickelten die Muʿtazilīten die aṣlaḥ-These. Demnach ist es für Gott verpflichtend (wörtl. wuǧūb ʿalā Allāh), die Welt auf die bestmögliche Art (aṣlaḥ) zu erschaffen. Hier ist das Konzept von Gut und Böse (al-ḥusn wa al-qubḥ) von zentraler Wichtigkeit, denn der muʿtalizitischen Lehre zufolge ist es nur Gott möglich, gut (ḥusn) zu handeln. Daher müsse die Schöpfung auf die beste Art (aṣlaḥ) geschehen. Der Zweck (ġaya) des Handeln Gottes richte sich nach dem Wohlergehen der Menschen. Wenn es kein Ziel gäbe, so wäre das Handeln Gottes sinnlos (ʿabaṯ), was dem Gottesbild widersprechen würde. In ihrer Lehre hat ṣalāḥ und aṣlaḥ die gleiche Bedeutung.[4]

Die Sunniten dagegen setzen der aṣlaḥ-Theorie das Konzept der göttlichen Gewohnheit (sunnat Allāh, ʿadat Allāh) entgegen. Demnach sei es nicht die Verpflichtung Gottes auf die bestmögliche Art (aṣlaḥ) zu erschaffen, weil dies sein freies Handeln einschränken und der Vorstellung eines allmächtigen Gottes widersprechen würde. Es sei die Gewohnheit Gottes auf die bestmögliche Art zu erschaffen, ohne dem Zwang einer Verpflichtung zu unterliegen.[5]

Die Ašʿarīten lehnen es ab, göttliche Handlungsgründe (ʿilal) zu bestimmen.[6] Daher erübrigt sich für sie diese Frage. Diese Position wird oftmals mit dem Vers "Er wird nicht zur Rechenschaft gezogen über das, was er tut. Aber sie werden zur Rechenschaft gezogen." (Q 21:23) begründet. Abū l-Ḥasan al-Ašʿarīs berühmte Disputation über "die drei Brüder" (al-iḫwat aṯ-ṯalāṯa) mit dem muʿtazilitischen Gelehrten Abū ʿAli al-Ǧubbāʿī, in dem er die versucht die Widersprüche der aṣlaḥ-Theorie darzulegen, wird als auschlaggebendes Ereignis überliefert, wonach al-Ašʿarī seine muʿtazilitischen Theologie verwarf und gleichzeitig durch seine neuen theologischen Positionierungen die Geburtsstunde des Ašʿarīsmus begann.[7]

3.Kann Gott den Menschen zu etwas verpflichten, zu dem er nicht fähig ist?

Diese theologische Frage wird unter dem Titel taklīf mā lā yuṭāq diskutiert. Bezüglich dieser Frage wird der Vers "Von niemand wird mehr verlangt, als er (zu leisten) vermag." (Q 2:233) und seine Interpretation zum Streitpunkt. Die Mutaziliten beantworten diese Frage gemäß ihres Gottesverständisses, welches auf der Gerechtigkeit (ʿadl). Wenn Gott jemanden zu etwas verpflichtet, zu dem er nicht fähig ist, würde der göttlichen Gerechtigkeit widersprechen, was für sie unmöglich ist.[8]

Die Ašʿarīten negieren alles, was den freien Willen eines allmächtigen Gottes einschränken würde. Wenn angenommen wird, dass Gott nicht den Menschen zu etwas verpflichten könne, würde Gott nicht mehr als allmächtig betrachtet werden. Nichts könne Gott hindern etwas zu tun, auch wenn sie eine solche Verpflichtung als logische Unmöglichkeit betrachten, wie einem Gelähmten befehlen zu laufen.[9]

Islamisches Recht

Die rechtliche Verpflichtung wird in der uṣūl al-fiqh-Literatur detailliert untersucht. Hauptuntersuchungsobjekt der Disziplin Islamisches Recht sind die Handlungen der Verpflichteten (afʿāl al-mukallafīn). Die Handlungen werden nach fünf Normkategorien beurteilt: wāǧib (Pflicht), mandūb (Empfohlen), mubāḥ (freigestellt), makrūh (verpönt) und ḥarām (Verboten). Diese Normen werden als al-aḥkām at-taklīfiyya bezeichnet. Diese werden mit weiteren Normkategorien wie al-aḥkām al-waḍʿiyya (Konditionsetzende Normen) im Teil des al-maḥkūm bih behandelt. Des Weiteren wird in den uṣūl-Werken der Handelnde, genannt als al-maḥkūm ʿalayh (der Beurteilte) untersucht und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Person als rechtlich verpflichtet (mukallaf) gelten kann. Grundsätzlich gilt eine Person als mukallaf, die einen Verstand besitzt und die Geschlechtsreife (bulūġ) erreicht hat. Die Frage nach der menschlichen Erkennbarkeit von gutem und schlechtem Handeln im Hinblick auf die Verantwortlichkeit, wird im Teil zu al-ḥusn wa l-qubḥ (das Gute und Böse) diskutiert.[10]

Adab-Literatur

In der adab-Literatur werden die Gründe bzw. Weisheiten hinter den Verpflichtungen untersucht. Des Weiteren wird der Handelnde ähnlich wie im Rechtskontext als mukallaf definiert, jedoch der Fokus auf die natürliche Beschaffenheit und seine Wesensmerkmale gelegt. Was sind die Wesensmerkmale des Menschen? Aus den Wesensmerkmalen des Menschen soll das Bewusstsein des Menschen entstehen, dass der Mensch einer taʾdīb (Erziehung) bedarf, um die Glückseligkeit erreichen zu können. Ein Teil dieser Erziehung ist die Befolgung der religiösen Verpflichtungen. Diese werden in drei Kategorien unterteilt: 1) Glaubensgebot (amr bi-iʿtiqādihi), 2) Handlungsgebot (amr bi-fiʿlihi) und 3) Unterlassungsgebot (amr bi-l-kaff ʿanh). Grund für die Verpflichtung sei der Nutzen (nafʿ) auschließlich für den Menschen, als Güte (luṭf) und Gabe (niʿma) von Gott.[11]

Quellenangaben

Avni, İlhan. „Aslah“. TDV İslam Ansiklopedisi. Istanbul: Türkiye Diyanet Vakfı Yayınları, 1991.

Gimaret, D., „Taklīf“. Encyclopaedia of Islam, Second Edition, überarbeitet von P. Bearman, Th. Bianquis, C.E. Bosworth, E. van Donzel, W.P. Heinrichs.

Gwynne, Rosalind. "Al-Jubba'i, Al-Ash 'Ari, And The Three Brothers: The Uses Of Fiction", The Muslim world, 75/3 (1985):132-161.

Al-Isfahānī. al-Mufradāt fī ġarīb al-Qurʾān. Beirut: Dār al-qalam, 1412/1991.

Al-Māwardī. Adab ad-dīn wa-d-dunyā. Beirut: Dār al-minhāǧ, 1434/2013.

Sinanoğlu, Mustafa. „Teklif“. TDV İslam Ansiklopedisi. Istanbul: Türkiye Diyanet Vakfı Yayınları, 2011.

Zeinaddine, Nora, Die Methodik der islamischen Jurisprudenz - uṣūl al-fiqh, Baden-Baden: Nomos Verlag, 2019.

Weiterführende Literatur

  • Brunschvig, R. Muʿtazilisme et Optimum (al-aṣlaḥ), Studia Islamica 39, 5-23, 1974.
  • Oberauer, Norbert. Religiöse Verpflichtung im Islam: Ein ethischer Grundbegriff und seine theologische, rechtliche und sozialgeschichtliche Dimension. Würzburg: Ergon Verlag, 2004.
  • Syed, Mairaj U.. Coercion and responsibility in Islam: a study in ethics and law. Oxford: Oxford University Press, 2017.
  • Nasir, Mohamad Nasrin, The Concept of "Taklīf" according to Early Ash'arite Theologians. Islamabad: Islamic Studies, 2016, Vol. 55, No. 3/4 (Autumn-Winter 2016), pp. 291-299 Published by: Islamic Research Institute, International Islamic University.

Autor*innen und Referenzen

Dieser Artikel wurde verfasst von: Bahattin Akyol.


  1. Rāġib al-Iṣfahānī, al-Mufradāt, 721
  2. Al-Buḫārī, Ṣaḥīḥ, Kitāb al-Īmān, Bāb 22; Muslim, Ṣaḥīḥ, Kitāb al-Aymān, Bāb 38, 39, 40.
  3. Sinanoğlu, "Teklif".
  4. Avni, „Aslah“.
  5. Avni, „Aslah“.
  6. Gimaret, D., „Taklīf“.
  7. Siehe Gwynne, "Al-Jubba'i, Al-Ash 'ari, and the three brothers, 131.
  8. Gimaret, D., „Taklīf“.
  9. Gimaret, D., „Taklīf“.
  10. Zeineddine, Die Methodik der islamischen Jurisprudenz, 59-62.
  11. Al-Māwardī. Adab, 147.