Ibāḥa (Erlaubnis)

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Al-ibāḥa bedeutet wörtlich „eine Sache öffentlich oder ersichtlich machen“.[1] Der Begriff und seine Ableitungen, wie z. B. mubāḥ, sind im islamischen materiellen Recht (fiqh) aufgetreten und beziehen sich auf die Rechtmäßigkeit oder Erlaubnis einer Handlung im Gegensatz zum Verbot (al-ḥaẓr). In der Rechtstheorie (uṣūl al-fiqh) ist dies zu einem Fachbegriff geworden, der sich auf den Grundsatz der Zulässigkeit (qāʿidat al-ibāḥa) bezieht.

Ibāḥa im Koran und Ḥadīṯ

Der Begriff ibāḥa oder seine Ableitungen kommen weder im Koran noch in der sunnah vor.[2] Es gibt jedoch einen anderen Begriff in den islamischen Offenbarungstexten, nämlich al-ḥilliyya, der später im islamischen Recht als ibāḥa interpretiert wird.[3]

Ibāḥa im islamischen Recht (fiqh)

Ibāḥa ist im islamischen Recht zu einem technischen Begriff mit verschiedenen Konnotationen geworden, wie etwa Rechtmäßigkeit und Erlaubnis. Es scheint, dass der Begriff mubāḥ, im Gegensatz zu maḥẓūr, zu den Rechtssprüchen (aḥkām) gezählt wird, obwohl er nicht als Rechtspflicht (al-taklīf) gilt, im Gegensatz zu obligatorisch, empfohlen, abgeraten und verboten.[4] Ibāḥa wird oft als eine indifferente Haltung gegenüber einer Handlung betrachtet, was bedeutet, dass sie weder verpflichtend noch empfohlen oder verboten ist.[5]

Ibāḥa in der islamischen Rechtstheorie (uṣūl al-fiqh)

Al-ibāḥa ist im islamischen Recht als das Prinzip der Zulässigkeit (qāʿidat al-ibāḥa) bekannt. Dieses Thema und seine Gegenteil, nämlich al-ḥaẓr (Verbot), werden seit der Entstehung der islamischen Rechtstheorie (uṣūl al-fiqh) von verschiedenen muslimischen Rechtsschulen diskutiert. In dieser Ausgabe geht um die zentrale Frage nach der grundsätzlichen Natur der Dinge (al-ašyā'), nämlich Subjekte, Handlungen oder Verhaltensweisen vor der Offenbarung (qabl al- šarʿ): Sind sie in der Natur oder grundsätzlich erlaubt oder verboten?


Diese Debatte wurde mit großer Wahrscheinlichkeit von muʿtazilitischen Rechtstheoretikern begonnen. Als Antwort auf die vorgenannte Frage stellt al-Jaṣṣāṣ al-Muʿtazilī (d. 370/981) in al-Fuṣūl fī al-Uṣūl mehrere Möglichkeiten [6] vor, welche als die drei folgenden Ansätze identifiziert werden können:


1. der Ansatz, der daran festhält, dass alle Dinge (al-ašyā') vor der Offenbarung (qabl al- šarʿ) oder ohne einen Offenbarungsindikator aus dem Koran oder der Sunna (Tradition) erlaubt (mubāḥ) sind, es sei denn, die rationale Vernunft unterscheidet etwas als schlecht oder böse (qabīḥ) oder als obligatorisch (wājib); 2. die Ansicht, die besagt, dass alle Dinge vor der Offenbarung (qabl al- šarʿ) als verboten (maḥẓūr) angesehen werden, es sei denn, die rationale Vernunft gebietet, dass etwas obligatorisch ist; 3. die Ansicht, die besagt, dass man zu all diesen Dingen nichts sagen kann - ob sie vor der Offenbarung erlaubt oder verboten sind vor der Offenbarung oder ohne einen Offenbarungsindikator aus dem Koran oder der Sunna (Tradition). Diese Ansicht wird als Aussetzung (al-tawaqquf) des Urteils bezeichnet.


Al-Jaṣṣāṣ plädiert für den ersten Ansatz [7], nämlich die Erlaubnis, was eine weithin akzeptierte Ansicht der muʿtazilitische Gelehrten war. Einige wenige muʿtazilitische Gelehrte glauben jedoch, wie Ibn Qudāma zuschreibt [8], an die zweite Sichtweise, d.h. Verbot/Zulassung. Schließlich glauben eine Reihe von Gelehrten, die zumeist mit einer ašʿaritischen Rechtsschule in Verbindung stehen [9], an den dritten Ansatz, d.h. man kann nicht sagen, ob etwas verboten oder erlaubt ist, bevor man nicht einen Offenbarungsindikator aus dem Koran oder der Sunna (Tradition) erhalten hat [10].


In der schiitischen Wissenschaft argumentiert al-Ṭūsī (d. 460/1067) in Übereinstimmung mit seinem Lehrer al-Šayḥ al-Mufīd, dass es nicht möglich ist zu behaupten, dass alle Dinge (al-ašyā') ohne einen Offenbarungsindikator prinzipiell verboten oder erlaubt sind. Daher scheint er an den dritten Ansatz zu glauben, nämlich die Aussetzung (al-tawaqqquf) des Urteils [11]. Allerdings plädiert al-Šarīf al-Murtaḍā (d. 436/1044) für eine grundsätzliche Erlaubnis für alle Dinge vor der Offenbarung (qabl al-šarʿ), es sei denn, die rationale Vernunft unterscheide etwas als schlecht oder böse (qabīḥ) oder als obligatorisch (wājib) [12]. Dieser letztere Ansatz wurde zu einer allgemein akzeptierten Ansicht unter späteren schiitischen Gelehrten.


Es ist wichtig anzumerken, dass diese Diskussion ab al-Muḥaqqiq al-Ḥillī (gest. 676/1277 [13] unter dem Prinzip der fundamentalen Nicht-Bewertung (al-barā'at al-aṣliyya) in schiitischer Rechtstheorie diskutiert wurde; sie wurde wie folgt kategorisiert: Alle Dinge (al-ashyā') sind frei von islamischer Rechtsordnung, d.h. sie sind hinsichtlich der Ermangelung einer direkten oder expliziten Regelung im Wesentlichen erlaubt [14].

Allerdings ist al-Ġazālī (gest. 505/1111) vielleicht die erste Person, die den Begriff al-barā'at al-aṣliyya in seinem rechtstheoretischen Meisterwerk mit dem Titel al-Mustaṣfā fī Uṣūl al-Fiqh reichlich verwendet hat [15].

Weiterführende Literatur

Reinhart, A. K. (1995). Before Revelation: The boundaries of Muslim moral thought. Albany, NY: New York State University Press.

Schacht, J.. “Ibāḥa”. in Encyclopaedia of Islam, Second Edition. P. Bearman, Th. Bianquis, C.E. Bosworth, E. van Donzel, W.P. Heinrichs (eds.). Retrieved (November 2021) from: http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_SIM_3015.

Shihadeh, Ayman. "Theories of Ethical Value in Kalām: A New Interpretation". The Oxford Handbook of Islamic Theology. Sabine Schmidtke (ed). Oxford, UK: Oxford University Press, 2016, pp. 384–407.

Autor*innen und Quellenangaben

Dieser Artikel wurde verfasst von: Mehrdad Alipour

Quellen

Ġazāli, Abū Ḥāmid Muḥammad b. Muḥammad. Al-Mustaṣfā minʿIlm al-Uṣūl. Muḥammad ʿAbd al-Šāfī (ed.). Beirut, Lebanon: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 1993.

Gleave, Robert. “Value Ontology and the Assumption of Non-Assessment in Postclassical Shiʿi Legal Theory.” In Philosophy and jurisprudence in the Islamic world. P. Adamson (ed.). Berlin, Germany: De Gruyter, 2019.

Ḥillī, Muḥaqqiq Najm al-Dīn Jaʿfar b. Ḥasan. Maʿārij al-Uṣūl. Muḥammad Ḥusayn al-Raḍawī (ed.). Qum, Iran: Mū’assasa Āl al-Bayt li Iḥya’ al-Turāṯ, 1983-4/1403H.

Ibn Qudāma al-Maqdasī, Mū’affaq al-Dīn Abū Muḥammad. Rūḍāt al-Naẓir wa Jannāt al-Manāẓir. ‘Abd al-Karīm Namla (ed.). Beirut, Lebanon: Mū’assasa al-Rayān li Ṭibāʿa wa al-NaŠr, 1432H/2002.

Jaṣṣāṣ, Aḥmad b. ‘Alī. Al-Fuṣūl Fī al-Uṣūl. Ajil Jasim (ed). Kuwait, Kuwait: Wizārat al-Awqāf, 1994.

Reinhart, A. K. Before Revelation: The boundaries of Muslim moral thought. Albany, NY: New York State University Press, 1995.

Šarīf al-Murtaḍā, Abū al-Qāsim ʿAli b. al-Ḥusayn. Al-Ḏarīʿa ilā Uṣūl al- Šarīʿa. Abū Qāsim Gurjī (ed.). Tehran, Iran: Intiŝārāt-i Dāniŝgāh-i Tehran, 1969-70/1348H.

Ṭūsī, Muḥammad b. Ḥasan. Al-ʿUdda fī Uṣūl al-fiqh. Muḥammad Riḍā Anṣārī (ed.). Qum, Iran: Intiŝārāt-i Sitāri, 1997-8/1376H.

Ibn Manẓūr, Muḥammad b. Mukarram. Lisān al-ʿArab. Beirut, Lebanon: Dār Ṣādir li al-Ṭibāʿa wa al-Nashr, 1993–4/1414H.

Schacht, J.. “Ibāḥa”. in Encyclopaedia of Islam, Second Edition. P. Bearman, Th. Bianquis, C.E. Bosworth, E. van Donzel, W.P. Heinrichs (eds.). Retrieved (November 2021) from: http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_SIM_3015.

Al-Āmidī, Sayf al-Dīn Abū al-Ḥasan ʿAlī b. Muḥammad. Al-Iḥkām fi Uṣul al-Aḥkām. ʿAbd al-Razzāq ʿAfīfī (ed.). Riyāḍ, Saudi Arabia: Dār al-Ṣamīʿī li al-Nashr wa al-Tawzīʿ, 2003–4/1424H.

Madadī, Aḥmad. “Tafāwūt-i Aṣl-i Ibāḥa wa Qāʿidi-yi Ibāḥa”, Wibgāh-i Sayyid Aḥmad Madadī. Retrieved (November 2021) from: http://www.ostadmadadi.ir/persian/book/11460/8689/.

  1. Ibn Manẓūr, Lisān al-ʿArab, 2: 416.
  2. Schacht, "Ibāḥa", Enzyklopädie des Islam, Zweite Ausgabe (online.)
  3. Madadī, "Tafāwūt-i Aṣl-i Ibāḥa wa Qāʿidi-yi Ibāḥa" (online).
  4. al-Šarīf al-Murtaḍā , al-Ḏaḫīra, 112; al-Āmidī, al-Iḥkām fi Uṣul al-Aḥkām, 1: 109.
  5. Zur Bedeutung von ibāḥa und mubāḥ im islamischen Recht siehe Schacht, "Ibāḥa", Enzyklopädie des Islam, Zweite Ausgabe (online.)
  6. al-Jaṣṣāṣ, 1994, 3: 247.
  7. ibid, p. 249
  8. Ibn Qudāma, 2002/1423H , 1: 133.
  9. ibid, 1: 134
  10. Für weitere Debatten über dieses Thema in der Sekundärliteratur siehe Reinhart, 1995
  11. al-Ṭūsī, 1997-8/1376Sh, 2: 742.
  12. al-Šarīf al-Murtaḍā, 1969-70/1348Sh, 2: 809.
  13. al-Ḥillī, 1983-4/1403H, p. 213.
  14. Für eine extensive Diskussion über das Thema das fundamentale nicht-Bewerten in der Sekundärliteratur siehe Gleave, 2019.
  15. siehe beispielsweise al-Ġazālī, 1993, pp. 101, 103, 121, and 160.