Tafrīṭ (Mangel)

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Laut ar-Rāġib al-Iṣfahānī (gest. im ersten Viertel des 5./11. Jahrhunderts) beschreibt die arabische Grundform faraṭa ein vorsätzliches Voranschreiten (wörtl. faraṭa iḏā taqaddama taqadduman bi-l-qaṣd).[1] Das vorsätzliche Voranschreiten wird im vierten Stamm ifrāṭ mit der Bedeutung des „Überschreiten[s] des normalen Maßes“ (al-ifrāt an yusrifa fī at-taqaddum)[2] und im zweiten Stamm tafrīṭ mit der „Vernachlässigung“ (at-tafrīṭu an yuqaṣṣira fī l-faraṭ) konkretisiert.[3]

Der Unterschied zwischen den beiden Begriffen ifrāṭ und tafrīṭ liegt bei as-Sayyid aš-Šarīf al-Ǧurǧānī (gest. 816/1413) darin, dass ifrāṭ ein Überschreiten im Sinne von Überschuss (ziyāda) und Vollständigkeit (kamāl) bedeute, wobei tafrīṭ ein Überschreiten im Sinne von Mangel (nuqṣān) und Beschränkung (taqṣīr) wiedergebe.[4]

Koranischer Gebrauch

Die Verbform farraṭa kommt im Koran an drei Stellen mit ähnlicher Bedeutung vor: In Q 6:38 kündigt Gott an, dass "in der Schrift nichts übergangen (mā farraṭnā) wurde. In Q 39:56 wird von Einzelnen die Missachtung (mā farraṭtu) Gott gegenüber bedauert. Schließlich ist in Q 12:80 von der Vernachlässigung (mā farraṭtum) der Brüder Yūsufs die Rede.[5]

Philosophie

Das aristotelische Konzept der Tugend als Mitte wurde in vielen Werken muslimischer Philosophen aufgenommen und neu interpretiert (siehe iʿtidāl). Dem Konzept liegt die Idee zugrunde, dass die menschliche Seele drei Kräfte oder Vermögen habe, die möglichst mittig gehalten werden müssen, um als Tugend fungieren zu können. Sowohl Übermaß (arab. ifrāṭ) als auch Mangel (arab. tafrīt) seien demnach Laster und werden verpönt.[6] Das Šarḥ al-Aḫlāq al-ʿAḍudiyya von Ṭāšköprīzāde Aḥmed Efendi (gest. 968/ 1561) gehört zu den wichtigsten Ethikwerken der Postklassik, die diesem Genre folgen. Ein Mangel (tafrīṭ) in Bezug auf die erste Seelenkraft, die des Denkvermögens, heißt bei Ṭāšköprīzāde ġabāwa (im Dt. etwa "Unwissenheit", "Dummheit" oder "Ignoranz"). Laut seiner Definition ist ġabāwa, die Unwissenheit, die dazu führt, "Gutes" (ȟayr) heranzuziehen und "Schlechtes" (šarr) abzuwenden.[7] Sinngleich dazu seien die Begriffe ǧumūd ("Zustand der Erstarrung") und ǧumūḥ ("Widerspensitgkeit", "Eigenwilligkeit"). Auch ḥumq ("Dummheit", "Torheit", "Narrheit") versteht Ṭāšköprīzāde als ein Synonym von ġabāwa. Dabei bezieht er sich auf einen Hadith, wonach der Prophet angekündigt haben soll, der aḥmaq sei vor Allah der Verabscheuteste der Schöpfung, denn Allah habe ihm das Würdevollste verwehrt. Ṭāšköprīzādes Interpretation zufolge sei dem aḥmaq der Verstand (ʿaql) verwehrt.[8] In einem Gedicht heißt es: "Alles Leid hat ein Mittel, das ihn heilt,/ nur die Torheit (ḥamāqa) ermüdet ihren Heilenden."[9] Der Mangel (tafrīṭ) am Denkvermögen könne laut Ṭāšköprīzāde als auch bulh (Sg. ablah, zu Dt. etwa "Naivität") bezeichnet werden. Dies sei aber keine natürliche Naivität eines Menschen, die in einem Hadith gepriesen ist, sondern eine Naivität, die vorsätzlich angeeignet wurde. All diese Begriffe sammelt Ṭāšköprīzāde unter dem Begriff des ǧahl ("Unwissenheit", "Ignoranz" und "Hemmungslosigkeit") zusammen.[10]

Literatur

Quellenangaben

Aristoteles. Nikomachische Ethik, übers. und hg. v. Ursula Wolf. Hamburg: Rowohlt, 2006.

Al-Ǧurǧānī, aš-Šarīf. Kitāb at-Taʿrīfāt (Hg. Muḥammad ʿAbd ar-Raḥmān al-Marʿašlī). Beirut: Dār an-nafās, 2007.

Al-Iṣfahānī, ar-Rāġib. al-Mufradāt fī ġarīb al-Qurʾān (Hg. Muḥammad Sayyid Kīlānī). Beirut: Dār al-Maʿrifa, o.J.

Ṭāšköprīzāde. Šarḥ Risālat al-Aḫlāq (Ed. Ṣalāḥ al-Hudhud). In Risālat al-aḫlāq wa šarḥuhā li-l-ʿAllāma Ṭāšköprīzāde. Beirut- Libanon: Dār aḍ-Ḍiyāʾ, 2018.

Autor*innen und Referenzen

Dieser Artikel wurde verfasst von: Fatma Akan Ayyıldız.

  1. al-Iṣfahānī, al-Mufradāt, S. 376.
  2. al-Iṣfahānī, al-Mufradāt, S. 377.
  3. al-Iṣfahānī, al-Mufradāt, S. 377.
  4. al-Ǧurǧānī, at-Taʿrīfāt, S. 89.
  5. Vgl. Al-Iṣfahānī, S. 377.
  6. Vgl. Nikomachische Ethik, S. 83- 86.
  7. Ṭāšköprīzāde, S. 67.
  8. Ṭāšköprīzāde, S. 67.
  9. Ṭāšköprīzāde, S. 67; übersetzt von F.A.
  10. Ṭāšköprīzāde, S. 67.