Iʿtidāl (Mittigkeit)

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Abgeleitet aus der Grundform (ʿa-d-l) im achten Stamm bedeutet iʿtidāl „Geradheit“ oder „Straffheit“.[1] In Lisān al-ʿArab wird der Begriff sinngleich mit tawassuṭ (Mittigkeit) definiert: "Ein Zustand zwischen zwei Zuständen in Quantität oder Qualität."[2] Als Beispiel wird angeführt, dass Gegenstände in Bezug auf die Länge und Wasser in Bezug auf die Temperatur muʿtadil (mittig) sein können. Weitere Synonyme sind tanāsub (zu Dt. etwa "proportionales Verhältnis", "Ausgeglichenheit" und "Symmetrie") und iqwām (zu Dt. etwa "das Richtigstellen").[3]

Im Koran sind Substantive und Verben, die von der Grundform (ʿa-d-l) hergeleitet werden, zu finden (siehe ʿadl); iʿtidāl kommt im Koran nicht vor.

Adab

Im Konzept Māwardīs ist zu erkennen, dass die Gerechtigkeit der Maßstab allen menschlichen Handelns ist. Das gerechte Handeln basiert wiederum auf der Verhältnismäßigkeit (iʿtidāl).[4] Gerechtigkeit sei der „Weg der Mitte“. Dieser ist bei jeglichem Handeln das Maß, an dem man sich richten soll, nämlich weder zu über- noch zu untertreiben.[5] Die Gerechtigkeit sind in folgenden zwei Beziehungen sind auf dem Prinzip des iʿtidāl (Mittigkeit) gestützt: (a) Die Gerechtigkeit für sich selbst (al-ʿadl fī nafsihī) ist sich den Nützlichen zu- und vor den Schädlichen abzuwenden. In jeder Situation solle ausgeglichen gehandelt werden. Weder soll das Maß überschritten (taǧāwuz) noch unterschritten (taqṣīr) werden. Der Grundgedanke ist, wer sich selbst ungerecht handelt, der handelt anderen gegenüber noch ungerechter.[6] Daher muss der Mensch bei sich selbst beginnen. (b) Die Gerechtigkeit gegenüber dem Nächsten (al-ʿadl fī ġayrihi) wird aus drei Beziehungsperspektiven untersucht; a) Die Gerechtigkeit gegenüber Untergebenen (ʿadl al-insān fī man dūnahū), b) Die Gerechtigkeit gegenüber Vorgesetzten (ʿadl al-insān maʿa man fawqahū), c) Gerechtigkeit gegenüber Seinesgleichen (ʿadl al-insān maʿa akfāʾihī). Māwardī sieht die Gerechtigkeit durch Verhältnismäßigkeit als essentielle Bedingung für das Wohlergehen der Welt. Jedes Schlechte in der Welt resultiere aus der Ungerechtigkeit, die wiederum aus dem Verlust der Mittigkeit entsteht.[7]

Islamische Philosophie

In dem ersten philosophischen Wörterbuch Risāla fī ḥudūd al-ašyāʾ von Yaʿqūb ibn Isḥāq al-Kindī (gest. 256/ 870) wird dem iʿtidāl eine ethische Bedeutung zugeordnet, die der aristotelischen Mitte zwischen den Extremen von Übermaß und Mangel gleichkommt.[8] Aristoteles versteht die Tugend als eine Art Mitte (mesotês), da sie auf das Mittlere (meson) abzielt. Sie ist aber keine arithmetische Mitte, sondern ist subjektiv auf jeden Einzelnen bezogen.[9]

In späteren Ethikwerken kommen verstärkt die Begriffe wasaṭ und tawassuṭ vor, die die „Mittigkeit“ in Bezug auf das Verhalten wiedergeben sollen. Dies ändert sich beim ašʿaritischen Gelehrten ʿAḍud d-Dīn al-Īǧī (gest. 756/1355). In seinem Werk Risālat al-Aḫlāq gewinnt der Begriff des iʿtidāl erneut an größerer Bedeutung. Neben wasat und tawassuṭ bezeichnet hier iʿtidāl gemäß dem aristotelischen Konzept die Mitte (griech. meson oder mesotês), die durch das Vermeiden des Zuviels (arab. ifrāṭ, griech. hyperbolê) und des Zuwenigs (arab. tafrīṭ, griech. elleipsis) getroffen wird. So entfaltet sich nach al-Īǧī die Mitte zwischen Torheit (ǧarbaza) und Naivität (ġabāwa) als die Tugend der Weisheit (arab. ḥikma, griech. sophia). Die Mitte zwischen Leichtfertigkeit (tahawwur) und Zurückhaltung (ǧubn) bildet die Tugend der Tapferkeit (arab. šaǧāʿa, griech. andreia). Zwischen der Zügellosigkeit (fuǧūr) und Regungslosigkeit (ḫumūd) befindet sich die Mitte in Form von der Tugend der Besonnenheit und Selbstbeherrschung bzw. Enthaltsamkeit (arab. ʿiffa, griech. sophrosynē).[10] Auch in den Kommentaren des Risālat al-aḫlāq, wie z.B. im Šarḥ vom osmanischen Gelehrten Ṭāšköprüzādeh (gest. 968/1561), wird der Gebrauch des iʿtidāl fortgeführt. So etwa erklärt Ṭāšköprüzādeh, dass Handlungen nur dann lobenswert sind, wenn sie sich im Bereich des iʿtidāl befinden und die zwei Extreme von Mangel und Übermaß vermieden werden. Außerdem könne iʿtidāl nur bewahrt werden, wenn sich der Verstand der Offenbarung unterordne.[11] Um die Mitte zu wahren, erwartet Ṭāšköprüzādeh nicht, verpöntes Verhalten vollständig zu eliminieren; entscheidend sei das Bestreben, lasterhaftes Verhalten stets in den Bereich des iʿtidāl zu lenken.[12]

Literatur

Quellenangaben

Aristoteles. Nikomachische Ethik (übers. u. hg. von Ursula Wolf). Hamburg: Rowohlt Verlag, 2006.

Çağrıcı, Mustafa. "itidal". In TDV İslâm Ansiklopedisi. Istanbul: TDV (2001): XXIII: 456- 457.

Ibn Manẓūr. Lisān al-ʿArab. 18. Bde. Qum: Našr Adab al-Ḥawza, 1984.

Al-Īǧī, ʿAḍud ad-Dīn. Risālat al-Aḫlāq (Ed. Ṣalāḥ al-Hudhud). In Risālat al-aḫlāq wa šarḥuhā li-l-ʿAllāma Ṭāšköprüzādeh. Beirut- Libanon: Dār aḍ-Ḍiyāʾ, 2018.

Māwardī, Adab ad-dīn wa-d-dunyā, Beirut: Dār al-minhāǧ, 1434/2013.

Özturan, Hümeyra. Êthostan Ahlâka. Istanbul: Klasik, 2020.

Ṭāšköprüzādeh. Šarḥ Risālat al-Aḫlāq (Ed. Ṣalāḥ al-Hudhud). In Risālat al-aḫlāq wa šarḥuhā li-l-ʿAllāma Ṭāšköprüzādeh. Beirut- Libanon: Dār aḍ-Ḍiyāʾ, 2018.

Wehr, Hans. Arabisches Wörterbuch Für Die Schriftsprache Der Gegenwart. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 1985.

Autor*innen und Referenzen

Dieser Artikel wurde verfasst von: Fatma Akan Ayyıldız und Bahattin Akyol.

Quellen:

  1. Wehr, Arabisches Wörterbuch, S. 819
  2. Lisān al-ʿArab, XI: 433.
  3. Lisān al-ʿArab, XI: 433.
  4. Māwardī: Adab ad-dīn wa-d-dunyā, 230.
  5. Māwardī: Adab ad-dīn wa-d-dunyā, 230.
  6. Māwardī: Adab ad-dīn wa-d-dunyā, 226.
  7. Māwardī: Adab ad-dīn wa-d-dunyā, 230.
  8. Çağrıcı, "itidal", XXIII: 456- 457; Özturan, Êthostan Ahlâka, S. 289.
  9. Aristoteles, Nikomachische Ethik, S. 83- 84.
  10. al-Īǧī, Risālat al-Aḫlāq, S. 38.
  11. Ṭāšköprüzādeh, Šarḥ, S. 63.
  12. Ṭāšköprüzādeh, Šarḥ, S. 63.