Ḥayāʾ (Scham, Anstand)

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Der Begriff ḥayāʾ bedeutet Scham.[1] Es gilt als einer der zentralen Begriffe in der islamischen Morallehre (ʿilm al-aḫlāq) und wird als eine wichtige Tugend angesehen, welche detailliert in der adab- und aḫlāq-Literatur behandelt wird.[2] Während muslimische Philosophen diesen Begriff der ʿiffa unterordneten, erlang er in der sufi-Literatur eine zentrale Stellung.[3] In vielen Aussagen des Propheten (ḥadīṯ) wird die Scham (ḥayāʾ) dem Glauben (īmān) zugeordnet.[4]

Koran und Hadith

Der Begriff ḥayāʾ wird in drei Versen erwähnt: 1. Eine Tochter des Propheten Šuʿayb sprach mit Moses und fühlte dabei eine Scham Q 28:25; 2. Der Prophet Muhammad wurde von einigen Gefährten gestört, jedoch konnte er aufgrund seiner Scham dies nicht zum Ausdruck bringen, dass aber Gott sich nicht "schämen" würde, die Wahrheit zu vermitteln, weshalb er den Vers herabsandte Q 33:53; 3. Die Polytheisten von Mekka kritisierten den Koran hinsichtlich seiner Hochsprache, aufgrund der Gleichnisse von Bienen, Ameisen, Fliegen etc. Darauf reagiert Gott im Koran, dass er sich nicht schäme, sich solcher Gleichnisse zu bedienen Q 2:26. Die Gelehrten differenzieren den Gebrauch von ḥayāʾ für Gott und den Menschen. Die menschliche Scham wie sich zu zieren oder etwas befürchten kann für Gott keine Zuschreibung darstellen. Wenn ḥayāʾ für Gott gebraucht wird, dann wird gemeint, dass "schlechte Handlungen nicht seinem Wesen entsprechen und Gott immer das richtige tut".[5]

In Hadithen wird ḥayāʾ mit dem Glauben in Verbindung gebracht. Scham sei Teil des Glauben (īmān). Der Prophet Muhammad beschreibt den Gefährten Uṯmān b. ʿAffān (gest. 35/656), den späteren dritten Kalifen, als die Person, von dem die Engel eine Scham empfanden. Insbesondere der Ausspruch "Wenn du dich nicht schämst, so tue was du willst" hat einen wichtigen moralischen Wert. Die Richtigkeit einer Handlung des Gläubigen wird anhand des Kriteriums der Schamhaftigkeit bewertet und bestimmt. Die Wichtigkeit der Scham als moralische Instanz zeigt sich ebenfalls im Ausspruch "Jede Religion hat eine Moral und die Moral des Islam ist die Scham".

ḥayāʾ in der adab-Literatur

Ḥayāʾ wird in Abū l-Ḥasan al-Māwardīs (gest. 450/1058) Werk Adab ad-dunyā wa-d-dīn im Kapitel adab an-nafs behandelt. Al-Māwardī gibt die Wichtigkeit dieser Tugend zu erkennen, indem er ḥayāʾ als das Anzeichen des Wohls (ḫayr) beschreibt.[6]

Die Scham des Menschen analysiert al-Māwardī aus drei Perspektiven:

1. Scham vor Gott (ḥayāuhu min Allāh). Diese Scham drückt sich in dem Befolgen der Befehle Gottes und dem Fernhalten von seinen Verboten aus.[7]

2. Scham vor den Menschen (ḥayāuhu min an-nās). Sie drückt sich darin aus, die Menschen nicht zu belästigen und öffentlich keine „schlechten“ Taten (qabīḥ) zu begehen.[8]

3. Scham vor sich selbst (ḥayāʾuhu min nafsihi). Sie ist die Enthaltsamkeit (ʿiffa) und der Selbstschutz bzw. die Selbstkontrolle, wenn man alleine ist.[9]

Literatur

Quellenangaben

  • Çağrıcı, Mustafa. „Hayâ ”. TDV İslam Ansiklopedisi. Istanbul: Türkiye Diyanet Vakfı Yayınları, 1997.
  • Al-Māwardī. Adab ad-dīn wa-d-dunyā. Beirut: Dār al-minhāǧ, 1434/2013.
  • Wehr, Hans. Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch–Deutsch. Wiesbaden: Harrassowitz, 1985.

Autor*innen und Referenzen

An diesem Artikel haben gearbeitet: Bahattin Akyol.

  1. Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, 312.
  2. Çağrıcı, „Hayâ ”.
  3. Çağrıcı, „Hayâ ”.
  4. Māwardī, Adab ad-dīn wa-d-dunyā, S. 394.
  5. Çağrıcı, „Hayâ ”.
  6. Māwardī, Adab ad-dīn wa-d-dunyā, S. 394.
  7. Māwardī, Adab ad-dīn wa-d-dunyā, S. 396.
  8. Māwardī, Adab ad-dīn wa-d-dunyā, S. 398.
  9. Māwardī, Adab ad-dīn wa-d-dunyā, S. 399.