ʿadl (Gerechtigkeit)

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Das arabische ʿadl hat eine Grundbedeutung von "Geradheit" oder "Ausgeglichenheit".[1] Es wird im koranischen Sprachgebrauch neu geprägt und erhält dort die ethisch relevante Bedeutung von Gerechtigkeit. In der späteren Kalām-Tradition bezeichnet ʿadl als Fachbegriff speziell die Gerechtigkeit Gottes.

Koranische Theologie

Das Nomen ʿadl und das dazugehörige Verb im ersten Stamm findet sich an 28 Stellen im Koran.[2] In der frühmekkanischen Periode bezeichnet ʿadl zunächst diejenige Schöpfungshandlung, durch welche Gott den Menschen in harmonischer und ausgeglichener Gestalt erschafft (Q 82:6–8). Ab der mittelmekkanischen Periode findet sich eine andere Verwendungsweise: Die Menschen, die andere Wesen Gott gleichsetzen (yaʿdilūn), werden für ihre Sünde getadelt (so zum Beispiel Q 27:60). Die mit ʿadl bezeichnete Handlung hat also ethisch eine stark negative Implikation. In der spätmekkanischen und medinensischen Periode schließlich lässt sich eine Verwendungsweise erkennen, die nun eine stark erwünschte Handlung bezeichnet. So sollen beispielsweise Zeugen (Q 6:152) in ihrer Aussage unparteiisch und gerecht sein, sie sollen nicht ihre Verwandten den Fremden gegenüber bevorzugen. Andere Koranstellen (wie Q 4:58) fordern diese Form der unparteiischen Gerechtigkeit von Personen, die zwischen den Menschen richten. Q 16:90 macht schließlich deutlich, dass Gott die Gerechtigkeit (ʿadl) gebietet (yaʾmuru bi).

Angelika Neuwirth weist darauf hin, dass die im Koran beobachtbare Neuprägung von ʿadl auch vor dem Hintergrund des Vorgefundenen bemerkenswert ist: Zur Bezeichnung der Gerechtigkeit hätte das hebräische zedeq zur Verfügung gestanden, welches als ṣidq auch in den Koran eingegangen ist, dort jedoch "die Wahrheit sprechen" bedeutet.[3] Es ist daher also als theologische Entscheidung zu verstehen, dass der Koran die Gerechtigkeit mit ʿadl neu begründet und an Gottes harmonisches Schöpfungshandeln rückbindet.

Weiterführende Literatur

  • Neuwirth, Angelika, Die koranische Verzauberung der Welt und ihre Entzauberung in der Geschichte, Freiburg im Breisgau: Herder, 2017, S. 111–132.
  • Sievers, Mira, "Gottgewollte Geschlechterordnung? Gender als Ausgangspunkt für eine Neubetrachtung der göttlichen Gerechtigkeit", in: Theologie – gendergerecht? Perspektiven für Islam und Christentum, Regensburg: Friedrich Pustet, 2020 (im Erscheinen).

Autor*innen und Quellenangaben

Dieser Artikel wurde verfasst von: Mira Sievers.

Quellen:

  1. Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch–Deutsch, Wiesbaden: Harrassowitz, 1985, S. 819
  2. Verb: Q 4:3.129.135; Q 5:8; Q 6:1.70.150.152; Q 7:159.181; Q 27:60; Q 42:15; Q 82:7. Nomen: Q 2:48.123.282; Q 4:58; Q 5:95.106; Q 6:70.115; Q 16:76.90; Q 49:9; Q 65:2.
  3. Angelika Neuwirth, Die koranische Verzauberung der Welt und ihre Entzauberung in der Geschichte, Freiburg im Breisgau: Herder, 2017, S. 111–113.