Faḍīla (Tugend)

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Faḍl heißt im Arabischen "Überschuss" und kann sowohl positiv (wie z.B. der Überschuss an Bildung und Güte) als auch negativ (z.B. Überschuss an Zorn) konnotiert sein. Dabei ist die Anwendung von faḍl im positiven und von fuḍūl im negativen Sinne gebräuchlicher.[1] Das Antonym heißt naqṣ ("Verlust", "Mangel").[2] Wird der Begriff komparativ verwendet, entspricht es dem "Vorrang" oder "Vorzug".[3] Zu "Vorzügen" von Individuen, Gruppen, Orten bzw. Regionen, Handlungen oder Gegenständen,[4] haben sich literarische Genres etabliert, darunter Werke wie faḍāʾil al-aʿmāl, faḍāʾil al-ǧihād, faḍāʾil al-ʿilm, faḍāʾil al-Qurʾān, faḍāʾil aṣ-ṣaḥāba, faḍāʾil al-amkina und faḍāʾil aš-šuhūr wa-l-ayyām.[5]

Von ethischer Relevanz ist der Begriff faḍīla, der rein lexikalisch die höchste Ebene von faḍl wiedergibt.[6] Eine Eigenschaft wird als faḍīla bezeichnet, wenn ihre Ausprägung eine Art Privileg oder Vollkommenheit unter seinesgleichen bedeutet. So kann zum Beispiel die "Schärfe" als eine faḍīla des Schwertes bezeichnet werden. Die lexikalische Bedeutung von faḍīla steht somit in einer engen Beziehung zum Charakteristikum eines Objektes oder Wesens.[7] Terminologisch bezieht sich faḍīla auf eine spezifische Fähigkeit (istiʿdādun hāṣṣun) einer bestimmte Verordnung nachzugehen oder eine bestimmte gute Tat auszuführen.[8] Als ethischer Begriff wird faḍīla ins Deutsche als "Tugend" übersetzt und ist das Gegenteil von raḏīla (Laster, Verworfenheit). Ein tugendhafter Mensch (fāḍil) ist jener, dessen Tugenden seine lasterhaften Verhalten übertreffen.[9]

Koran

Die komparative Anwendung des Begriffs als "Vorzug" oder "Vorrang" kommt ar-Rāġib al-Iṣfahānī (gest. im ersten Viertel des 5/11. Jahrhunderts) zufolge Im Koran in zwei Formen vor: Zum einen die "substanzielle (ǧawharī) Vorrangigkeit", die in Sure 17: 70 zu erkennen ist: wa-la-qad karramnā banī ʿādama [...] wa-faḍḍalnāhum ʿalā kaṯīrin mimman ḫalaqnā tafḍīlan ("Und wir waren gegen die Kinder Adams [die Menschen] huldreich [...] und haben sie vor vielen von denen, die wir erschaffen haben, sichtlich ausgezeichnet"). Diese Form von "Vorzug" herrsche binnen Arten und Gattungen und sei von fortwährender Art, d.h. es gäbe für den "Unterpriviligierten" keine Möglichkeit vorgezogen zu werden, indem er eventuelle Mängel beseitigt. So könnte ein Pferd oder ein Esel niemals den Rang eines Menschen erlangen.[10] Die zweite Form ist laut al-Iṣfahānī der akzidentielle (ʿaraḍī) "Vorzug", eine inkonstante Art von "Vorrangigkeit", die erworben werden kann; z.B. "Vorrangigkeit" unter Menschen.[11] Zu dieser Art von "Vorzug" ordnet al-Iṣfahānī mehrere Koranverse zu: Gott habe "die einen von euch im Unterhalt (ar-rizq) vor den anderen ausgezeichnet" (Sure 16:71),[12] "damit ihr danach strebt" (Sure 17:12).[13] Auch der geäußerte "Vorrang" von Männern zu Frauen in Sure 4:34,[14] "Vorrangigkeiten" unter Propheten (Sure 17:55)[15] und der "Vorrang" des ǧihāds (Sure 4:95)[16] sei ein akzidentieller.[17]

Es lässt sich hieraus schließen, dass der koranische faḍl (der Vorzug) bezogen auf den Menschen zum Teil eine Gottesgabe ist und zum Teil vom Menschen selbst erworben wird.

Als ethischer Begriff kommt faḍīla im Koran nicht vor, wobei die Kultivierung mit hohen Tugenden eine wichtige Botschaft des Korans ist. Großzügigkeit, Wohltätigkeit, Mut, Treue, Wahrhaftigkeit, Geduld und Mäßigung sind einige Vortrefflichkeiten, die im Koran explizit verordnet werden.[18]

Hadith

In Hadithwerken sind mehrere Kapiteln zu finden, die bestimmte Vorzüge (faḍl, Pl. faḍāʾil) thematisieren, wie z.B. faḍāʾil al-madīna ("Vorzug [der Stadt] Madīna"), faḍāʾil aṣḥāb an-nabī (Vorzug der Prophetengefährten) und faḍāʾil al-anṣār ("Vorzug der [medinensischen] Helfer") in al-Buḫārīs aṣ-Ṣaḥīḥ[19] oder faḍāʾil aṣ-ṣaḥāba (Vorzug der Prophetengefährten) in Muslims aṣ-Ṣaḥīḥ. Tugenden (faḍīla, Pl. faḍāʾil) im ethischen Sinne werden werden in Hadithwerken in Kapiteln wie kitāb al-adab, kitāb al-birr[20] oder ḥusn al-ḫuluq aufgegriffen.

Kalām

In der kalām- Wissenschaft wird der Begriff tafḍīl im II. Stamm mit der kausativen Bedeutung „jmd. oder etw. für vorzüglich/ vorrangig erklären“ gebraucht. So diskutieren kalām-Gelehrten „Vorrrangigkeit“ unter a) Engeln und Menschen, b) den Propheten, c) den Menschen allgemein und d) den Imamen, wobei letzteres schwerpunktmäßig im Zentrum dieser Debatten liegt: In Anbetracht der Annahme, dass die Nachfolger (ḫalīfa) des Propheten nur dann legitim seien, wenn dieser Amt vom „Vorzüglichsten“ (al-afḍal) der Gesellschaft geführt wird, wurden die ersten vier Nachfolger auf ihre Vorzüglichkeit diskutiert.[21]

Islamische Philosophie

In der arabischen Rezeption der griechischen antiken Tugendethik wird faḍīla (Pl. faḍā`il) gebraucht, um aretê aus jener Tradition wiederzugeben. [22] So entwickelte sich faḍīla also erst unter Einwirkung der Philosophie als Kernbegriff, um angemessene oder ideale Handlungen, also die Tugend, zu erfassen. Die gegensätzlichen Handlungen werden als raḏīla (Pl. raḏāʾil) bezeichnet.

Als erster islamischer Philosoph definiert Yaʿqūb ibn Isḥāq al-Kindī (gest. 268-271) faḍīla als dem Menschen spezifische hochwertige Charaktereigenschaft. Der platonischen Auffassung entsprechend, ordnet er der Seele (nafs) vier Kardinaltugenden zu, die in ausführlicherer Darstellung in späteren philosophischen Ethikwerken, wie u. a. in ʿIlm al-aḫlāq von Ibn Sīnā (gest. 428/ 1037) und Tahḏīb al-aḫlāq des Ibn Miskawayh (gest. 421/ 1030) neu aufgegriffen werden.[23] Ibn Miskawayh, der das aristotelische Konzept der Tugend in seine Ethik eingebaut hat, richtet sich bezüglich der Kardinaltugenden Weisheit (ḥikma), Mut (šaǧaʿa), Besonnenheit (ʿiffa) und Gerechtigkeit (ʿadl) nach dem platonischen Vorbild.[24] Dabei wird die Gerechtigkeit als oberste Tugend wiedergegeben.[25] In späteren Ethikwerken werde mystischen Lehren u.a. von Abū Ḥāmid al-Ġazzālī (gest. 505/1111) in diese philosophische Rezeption von Tugenden integriert. Die Konstellation von vier Kardinaltugenden wird in vielen Werken fortgeführt, auch wenn die Auswahl von den Tugenden variiert. Es gibt aber auch Autoren, die dem Konzept der vier Kardinaltugenden nicht folgen; wie z.B. der persische Exeget und Mystiker Ḥusayn Wāʿiẓ Kāšifī (gest. 910/ 1504-1505) in seinem Aḫlāq Muḥsinī oder der osmanische Historiker Ǧalālzāde Muṣṭafā (gest 975/1567) in Mawāhib al-ḫallāq fī marātib al-aḫlāq.[26]

Bei Ibn Miskawayh werden den Tugenden eine ganze Reihe von Untertugenden zugeordnet.[27] Ob vor Ibn Miskawayh untergeordnete Tugenden behandelt wurden, ist unklar.[28] Immerhin wird diese Darstellung seitens ʿAḍud d-Dīn al- Īǧī (gest. 1355) und seinen Kommentatoren, mit geringen Variationen bezüglich der Anzahl und Benennung, jahrhundertelang fortgesetzt.[29]

Im Gegensatz zu faḍl, das u.a. auch als eine gottgegebene Vorzüglichkeit verstanden werden kann, wird in ethischen Diskursen faḍīla stets als eine erworbene Eigenschaft dargestellt, die der Mensch selbst ausprägt.

Literatur

Quellenangaben

Abū Zayd, Minā. "Faḍīla". In al-Mawsūʿa al-islāmiyya al-ʿamma (Ed. Maḥmūd Ḥamdī Zaqzūq). Kairo: Wizārat al-awqāf al-maǧlis al-aʿlā li-šuʾūn al-islamiyya (2001): S.1089-1090.

Bilgin, Kübra. Şerhu Ahlâkı Adudiyye Metin ve Değerlendirme. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Istanbul: Universität Marmara, 2013.

Çağrıcı, Mustafa. „Fazilet”. In TDV İslam Ansiklopedisi, Istanbul: TDV (2009): XII: 268-271.

Enderwitz, Susanne. "Faḍāʾil". In Encyclopaedia of Islam, THREE (http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_ei3_COM_26889; zugegriffen am 17.11.2021).

Ferrari, Cleophea. "Antike Tugendethik in der arabischen Philosophie". In Tugend, Orient und Okzident, Bd. 1 (Hg. Dagmar Kiesel, Cleophea Ferrari). Frankfurt am Main: Klostermann, 2016.

Höffe, Ottfried. Aristoteles-Lexikon. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 2005.

Ibn Manẓūr. Lisān al-ʿArab. 18. Bde. Qum: Našr Adab al-Ḥawza, 1984.

Ibn Miskawayh. Tahḏīb al-aḫlāq (Hg. Ammād al- Hilālī). Freiburg: Al- Kamel Verlag, 2011.

al-Īǧī, ʿAḍud ad-Dīn. Risālat al-Aḫlāq (Ed. Ṣalāḥ al-Hudhud). In Risālat al-aḫlāq wa šarḥuhā li-l-ʿAllāma Ṭāšköprüzādeh. Beirut- Libanon: Dār aḍ-Ḍiyāʾ, 2018.

Al-Iṣfahānī, ar-Rāġib. al-Mufradāt fī ġarīb al-Qurʾān. Beirut: Dār al-Maʿrifa, 1985.

Al-Maqdisī, Muḥammad ibn ʿAbd al-Wāḥid. Kitāb Faḍāʾil al-Aʿmāl. Beirut: Muʾassasat ar-Risāla, 1987.

Öz, Mustafa. "Tafdîl". In TDV İslam Ansiklopedisi, Istanbul: TDV (2010): XXXIX: 369-371.

Ṭāšköprüzādeh. Šarḥ Risālat al-Aḫlāq (Ed. Ṣalāḥ al-Hudhud). In Risālat al-aḫlāq wa šarḥuhā li-l-ʿAllāma Ṭāšköprüzādeh. Beirut- Libanon: Dār aḍ-Ḍiyāʾ, 2018.

Johnston, David. "Virtue". In Encyclopaedia of the Qur`an (http://dx.doi.org/10.1163/1875-3922_q3_EQSIM_00446; zugegriffen am 13.01.2022).

Al-Mawsūʿa al-fiqhiyya, 45 Bd. Kuwait: Wizārat al-awqāf wa-š-šuʾūn al-islāmiyya, 1983.

Weiterführende Literatur

  • Adamson, Peter. "Ethics in philosophy". In: Encyclopaedia of Islam, THREE (http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_ei3_COM_26243; zugegriffen am 16.11.2021).
  • Bejczy, István P. "Virtue and Vice". In Encyclopaedia of Medieval Philosophy (ed. Henrik Lagerlund). Dordrecht: Springer, 2011.
  • Black, Deborah L. "Faculties of the soul". In Encyclopaedia of Islam, THREE (http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_ei3_COM_26888; zugegriffen am 16.11.2021).
  • Ḍawmiṭ, Ǧabr. "Faḍīla". In al-Muqtaṭaf 6/12 (1882): 310-312.
  • al-Fārābī, Abū Naṣr. Der Musterstaat (hrsg. und übertr. von Friedrich Dieterici). Hildesheim: Olms (1985).
  • Fakhry, Majid. Ethical Theories in Islam. Leiden (u.a.): Brill, 1991.
  • Gruber, Ernst August. Verdienst und Rang: Die Faḍāʾil als literarisches und gesellschaftliches Problem im Islam. Freiburg: Klaus Schwarz Verlag, 1975.
  • Kamāl ad-Dīn, Muḥammad. "Min al-usas al-islāmiyya li-bināʾ al-muǧtamiʿ". In Maǧallat al-Azhar 46/3 (1974): 286-292.
  • Sherif, Mohamed Ahmed. Ghazali`s Theory of Virtue. Albanien: State University of New York Press, 1975.
  • Wagner, Ewald. Die arabische Rangstreitdichtung und ihre Einordnung in die allgemeine Literaturgeschichte. Mainz: Verl. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, 1963.
  • Yavuz, Salih Sabri. "Kelâm`da Efdaliyyet Meselesi ve Ibn Kemal`in Efdaliyyetu Muhammed Risalesi". In Dinbilimleri Akademik Araştırma Dergisi 5/1 (Januar-März 2005): 147- 184.

Autor*innen und Referenzen

Dieser Artikel wurde verfasst von: Fatma Akan Ayyıldız.


Quellen:

  1. al-Iṣfahānī, al-Mufradāt, S. 381.
  2. Lisān al-ʿArab, XI: 524; al-Mawsūʿa al-fiqhiyya, XXXII: 150; al-Iṣfahānī, al-Mufradāt, S. 381; Minā Abū Zayd,"Faḍīla", S. 1089.
  3. al-Iṣfahānī, al-Mufradāt, S. 381.
  4. Vgl. Enderwitz, "Faḍāʾil", in Encyclopaedia of Islam, THREE.
  5. al-Maqdisī, Kitāb Faḍāʾil al-Aʿmāl, S. 15. Für Vorzüge z.B. einzelner Handlungen, Zeiten oder Orten siehe Al-Mawsūʿa al-fiqhiyya, XXXII: 150- 160.
  6. Lisān al-ʿArab, XI: 524; Minā Abū Zayd,"Faḍīla", S. 1089.
  7. Vgl. Minā Abū Zayd,"Faḍīla", S. 1089.
  8. Abū Zayd,"Faḍīla", S. 1089.
  9. Abū Zayd,"Faḍīla", S. 1089.
  10. al-Iṣfahānī, al-Mufradāt, S. 381. In Lisān al-ʿArab werden einige Privilegien von Menschen im Vergleich zu Tieren aufgeführt; siehe Lisān al-ʿArab, XI: 524.
  11. al-Iṣfahānī, al-Mufradāt, S. 381.
  12. wa-llāhu faḍḍala baʿḍukum ʿalā baʿḍin fī r-rizqi.
  13. li-tabtaġu faḍlan min rabbikum.
  14. ar-riǧālu qawwāmuna ʿala n-nisāʾi bi-mā faḍḍala llāhu baʿḍahum ʿalā baʿḍin wa bi-mā anfaqū min amwālihim ("Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben").
  15. wa-la-qad faḍḍalnā baʿda n-nabiyyīna ʿalā baʿḍin ("Einige der Propheten haben wir vor den anderen ausgezeichnet").
  16. faḍḍala llāhu l-muǧāhidīna bi-amwālihim wa-anfusihim ʿala l-qāʿidīna daraǧatan ("Gott hat diejenigen, die mit ihrem Vermögen und mit ihrer Person Krieg führen, gegenüber denjenigen, die daheim bleiben, ausgezeichnet.")
  17. al-Iṣfahānī, al-Mufradāt, S. 381-2.
  18. Johnston, “Virtue”.
  19. Enderwitz, "Faḍāʾil".
  20. Çağrıcı, „Fazilet”.
  21. Öz, "Tafdîl".
  22. Ferrari, "Antike Tugendethik in der arabischen Philosophie", S. 111.
  23. Çağrıcı, „Fazilet”; Höffe, Aristoteles- Lexikon, S. 80.
  24. Ferrari, „Antike Tugendethik in der arabischen Philosophie“, S. 118; Ibn Miskawayh, Tahḏīb al-aḫlāq, S. 249- 251.
  25. Miskawayh, Tahḏīb al-aḫlāq, S. 251.
  26. Çağrıcı, „Fazilet”.
  27. Miskawayh, Tahḏīb al-aḫlāq, S. 251- 257.
  28. Bilgin, Şerhu Ahlâkı Adudiyye, S. 55- 56.
  29. al-Īǧī, Risālat al-aḫlāq, S. 39- 42; Ṭāšköprüzādeh, Šarḥ, S. 80- 105.