Zeitachsenmanipulation

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Begriff


Zeitachsenmanipulation ist eine Technik, die erst durch bestimmte Apparate ermöglicht wird und deren Wesen es ist, die natürliche Unumkehrbarkeit und Linearität der Zeit, die festgelegte Abfolge von Ereignissen aufzubrechen, umzuordnen und/oder in ihren Eigenschaften (Geschwindigkeit) zu verändern.


Medienwissenschaftliche Perspektive


Als fundamentale Erkenntnis menschlichen Daseins galt lange die Unumkehrbarkeit der Zeit. Durch die bahnbrechenden Technologien Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese gefestigte Beziehung zur Zeit als lineare Größe aufgebrochen/erschüttert. Mit der Kinematographie (übrigens stammt das Wort aus dem griech. von ϰίνημα kínēma, „Bewegung“, auch „Erschütterung“, „Veränderung“ und γράφειν gráphein, „(be-)schreiben“) begann die Möglichkeit, Bilder beliebig anzuordnen und sie in beliebiger Geschwindigkeit abzuspielen. Mit dem Phonographen Edisons (1877) konnten nicht nur erstmalig Töne und somit Stimmen konserviert (aufgezeichnet, gespeichert) und wiedergegeben werden (was für starke kulturelle Irritation und Schockierung sorgte), sondern auch - eben wie in der Filmtechnik hier auf akustischer Ebene - die Abfolge und Geschwindigkeit von Tönen manipuliert werden. Durch diese Technologien wurde Zeit von einer statischen, linearen Größe, einer Achse, plötzlich zu einer Variable.

Einen weiteren Schritt erlauben Programmiersprachen, in denen Zyklen, Schleife und Sprünge zur Strukturierung und auch einer Endlichkeit von Codes führen: Durch diese Zeitfiguren der Programmierung ist es möglich mit endlichen Codes (bestimmte Zeilenlänge) theoretisch unendlich lange Programme zu schreiben. Friedrich Kittler stellt diesen Aspekt auch im klassischen Alphabet fest. Denn für ihn bedeutet Zeitachsenmanipulation in erster Linie die Möglichkeit, "einen zeitseriellen Datenstrom anders anzuordnen"[1]. Unter diesen Datenstrom kann selbstverständlich auch die alphabetische Schriftsprache gefasst werden, da sie sich aus diskreten Zeichen zusammensetzt. Dies steht ganz im Gegensatz zur "flüchtigen" gesprochenen Sprache. Der philosophische "Hausgeist" der Berliner Schule am Kupfergraben, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, benennt diesen vergänglichen und somit nicht zeitmanipulierbaren Aspekt der gesprochenen Sprache als ein Dasein, das "verschwindet in dem es ist"[2].

Zeitachsenmanipulation ist im Gegensatz zur Manipulation räumlicher Ordnung schon dadurch erschwert, dass die Zeit eine Nachfolgerelation verschiedener Punkte vorgibt, währenddessen Raumpunkte beliebig zueinander angeordnet sind.[3] Zudem gibt es in der zeitlichen Dimension keine umgrenzten Leerstellen, so wie sie auf räumlicher Ebene geschaffen werden können. Um Zeit zu manipulieren, wird sie also räumlich strukturiert.
"[Den Messapparaten] liegen Prinzipien zu Grunde, die machen die Zeitunterschiede dadurch messbar, dass sie dieselben in Raumunterschiede verwandeln."[4] Das klingt zunächst abstrakt, ist aber schon bei einem Blick auf das alltäglichste Zeitmessgerät - die Uhr (siehe Uhrzeit - nachvollziehbar. Um Zeitunterschiede anzuzeigen, bewegen sich Zeiger mit verschiedenen Geschwindigkeiten über das Ziffernblatt, auf welchem in regelmäßigen, festgelegten Abständen Zeitunterschiede (Sekunden, Minuten, Stunden) durch das Überschreiten von Markierungen (Striche, Zahlen) abgebildet werden.

Zurück zur medientechnischen Betrachtung von zeitmanipulierender Soft- und Hardware. Hier sollen kurz die Bedeutung, Relevanz bzw. die Möglichkeiten angerissen werden:

  • Zeitsprünge: Mithilfe technischer Medien werden Zeitsprünge plötzlich realisierbar. Schon im klassischen Film können Bildsequenzen (wortwörtlich) ausgeschnitten und ggf. an anderer Stelle wieder eingeklebt werden. Mithilfe geeigneter Software sind alle denkbaren Bild- und Tonfolgen beliebig sortierbar. Und auf der Ebene der Programmiersprache sind Sprünge nicht wegzudenken (s.o.).
  • Beschleunigung: Die Möglichkeit, Sequenzen schneller abzuspielen, als sie aufgenommen wurden, dient nicht nur zum Vorspulen bis zu einem bestimmten Ausschnitt einer Aufnahme, sondern auch als künstlerisches Mittel, zum Beispiel um Zeitraffer anzuzeigen (verhältnismäßig langsame Bewegungen wie z.B. Wolkenzug wird im Film oft schneller abgespielt um einen bestimmten Zeitraum - z.B. einen Tag - zu verdeutlichen). Darüber hinaus ist dieses Mittel für Simulationen von elementarer Bedeutung. Dynamische Klimasimulationen sind ohne zeitraffende bzw. beschleunigte Berechnungen und Darstellungen nicht denkbar. In wenigen Minuten oder sogar Sekunden werden hier bestimmte Prozesse mehrerer Jahre, Jahrzehnte, Jahrtausende usw. veranschaulicht.
  • Verzögerung: Für Verzögerungsmechanismen gelten die gleiche Aspekte (natürlich in entgegengesetzter Richtung) wie für die Beschleunigung. Ein interessantes Beispiel im Bereich der Simulation ist das Explosionsmodell. Es macht kleinste Momente, für den Menschen unwahrnehmbare Zeitunterschiede sichtbar. Es erstreckt ein Ereignis, das nach Bruchteilen einer Sekunde schon vorüber geht auf einen beliebig langen Zeitraum. Dieses Verfahren der "Zeitlupe" ist natürlich auch in kriminologischen Kontexten interessant. Die medientechnisch besondere Anwendung der Verzögerung ist der Verzögerungsspeicher. Er dient der temporären Speicherung eines seriellen Signals.
  • Phasenverschiebung: Hierbei werden Signale zeitversetzt übertragen, um verschiedene Systeme miteinander zu synchronisieren und so einen kohärenten Farbeindruck zu vermitteln.[5]. In dieser Manipulationstechnik laufen verschiedene zeikritische Begriffe zusammen. Die Phasenverschiebung wird zur Synchronisation, also zum Herstellen von Gleichzeitigkeit angewandt. Dazu wird "Real Time Analysis" nötig - also die Abarbeitung von "Aufschub und Verzögerung, Totzeit oder Geschichte [...], um gerade noch rechtzeitig zur Speicherung des nächsten Zeitfensters übergehen zu können."[6]. Das bedeutet nichts anderes als eine Signalübertragung in Echtzeit - nach vorausgehender Berechnung.


Artefakte


Mercury Delay Line


Weiterführendes


Grundlagenwerk zur Annäherung an die Thematik der Zeitachsenmanipulation aus medienwissenschaftlicher Sicht ist definitiv Friedrich Kittlers Kapitel "Time Axis Manipulation and Real Time Analysis" in seinem Werk "Draculas Vermächtnis". Die Lektüre hilft zum Herstellen der theoretischen Zusammenhänge und bietet einen grundlegenden Einstieg.


Textverweise


  1. Friedrich Kittler: Draculas Vermächtnis. Leipzig 1993. S. 183.
  2. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Berlin 1845. S. 412.
  3. vgl. Kittler: Draculas Vermächtnis. S. 183.
  4. Hermann von Helmholtz: Über die Methoden, kleinste Zeitteile zu messen, und ihre Anwendung für physiologische Zwecke. In: Königsberger naturwissenschaftliche Unterhaltungen. Königsberg 1848. S. 173.
  5. vgl. Wolfgang Ernst: Präsenzzerlegung. Wie Medien den humanen Zeitsinn ergreifen. S. 7. Online unter: https://www.musikundmedien.hu-berlin.de/de/medienwissenschaft/medientheorien/texte-und-notizen-zur-medienarchaeologie/praesenz-zerlegung.pdf/view. Zuletzt abgerufen am: 29.10.2017.
  6. Kittler: Draculas Vermächtnis. S. 201.