Echtzeit

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Begriff


Echtzeit ereignet sich im erweiterten Fenster der Gegenwart, in der algorithmisch berechneten vollendeten Zukunft. Es handelt sich im Gegensatz zur Live-Übertragung weniger um ein Phänomen, bzw. einen technisch bedingten Zusammenhang, sondern um die "Figuration von Zeit als Vorhersage nächster Momente aus der mathematisch analysierten Kenntnis der unmittelbaren Jetztvergangenheit"[1].


Medienwissenschaftliche Perspektive


Kommunikationsmodell nach Shannon

Was in der Definition noch etwas sperrig klingt wird greifbarer, wenn man sich der Methode der Echtzeit-"Erzeugung" nähert. Dazu muss kurz auf die Kommunikationstheorie von Claude Shannon und die Flugabwehrtheorie von Norbert Wiener eingegangen werden. Claude Shannon beschreibt in einem Modell zur Optimierung von Übertragungsprozessen den Informationsaustausch zwischen Sender und Empfänger. Das Modell beruht (vermutlich) auf den Überlegungen zur Flugabwehr[2]. Die Nachrichtenquelle produziert eine Nachricht, die vom Sender in ein Signal codiert wird, welches über den Kanal an den Empfänger übertragen und schließlich vom Ziel decodiert wird. Das aus medienwissenschaftlicher Sicht interessanteste Element ist die Störquelle, die den Kanal beeinflusst und in die Vorausplanung des Übertragungsprozesse einbezogen werden muss. Denn im Moment der Störung wird die Übertragung und damit das Medium selbst erst sichtbar. Shannons Modell, das damals nicht offiziell als Flugabwehr- sondern Kommunikationstheorie publiziert wurde, deckt sich in den Grundlagen mit Norbert Wieners "linear prediction", wenngleich es sich hier um parallele Arbeiten aus der Zeit des zweiten Weltkriegs handelt.[3]

1948 erschien Wieners sein Buch, das bereits das zentrale Anliegen im Titel anspricht: "Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine." Die für den Begriff der Echtzeit relevanten Berechnungen der "linear prediction" beziehen sich ebenfalls auf die Flugabwehr. Mithilfe analoger Computer soll in einem Flugzeug (Sender) berechnet werden, wo sich ein Flugabwehrkörper (Nachricht) zu einem bestimmten Zeitpunkt befinden muss, also in welchem Winkel zu welchem Zeitpunkt es abgeschossen werden muss, um schließlich das feindliche Flugzeug (Empfänger) zu treffen. Die Grundlage ist es, die Position des Geschosses und des feindlichen Flugzeuges zu ermitteln. Dazu werden Kurvenwahrscheinlichkeiten berechnet und mögliche Störungen (z.B: Luftströmungen) berücksichtigt, in dem die durchschnittlichen Schwingungen berechnet werden. Dieser Prozess ist in höchstem Maße zeitkritisch, weil der Abwurf des Geschosses exakt abgepasst werden muss, um das feindliche Flugzeug nicht zu verpassen.

Und so wird auch im mehrfachen Sinne deutlich, warum in diesem Zusammenhang von "Echtzeit" gesprochen wird. Zum einen wird in einem vorher festgelegten Zeitfenster ein Ergebnis berechnet und danach ein Prozess strukturiert. Echtzeit ist nicht der Übertragungsprozess selbst, und bezieht sich auch nicht auf die Geschwindigkeit, sondern meint die algorithmisch vorausgesagte Zukunft. Bei der Berechnung der Informationsübertragung wird also vielmehr die "echte Zeit" bemessen, als - so in der Live-Übertragung - die Zeit, die die Information vom Sender zum Empfänger benötigt. Gegenüberstellend ließe sich formulieren, dass Echtzeit-Übertragung im räumlichen und zeitlichen Sinne zielgerichtet ist, Live-Übertragung sich hingegen durch die unmittelbare zeitliche (aber nicht räumliche) Verbindung zwischen Sender und Empfänger kennzeichnet.

Im Bereich der Videoübertragung, in der die beiden Begriffe oft vermischt werden, kann man zwischen analoger und digitaler Bild-und Tonübertragung unterscheiden. Während die analoge Technik eine tatsächliche Live-Übertragung zulässt, wird bei der digitalen Übertragung immer segmentiert, berechnet und wieder zusammengesetzt. Demnach ist Echtzeit-Übertragung in beiden Übertragungstechnologien möglich.


Weiterführendes


Um genaueres zum "linear prediction mode" zu lesen, empfiehlt sich die Lektüre Wieners Werk "Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine". Das Werk ist wesentlich mathematischer als es eine medienwissenschaftliche Betrachtung der Echtzeit erfordern würde. Doch offenbaren die physikalischen und mathematischen Grundlagen detailgenau die Zusammenhänge zwischen Berechnungs- und Übertragungsprozessen, die hier nur angerissen wurden.
Als Sekundärquelle bietet sich der zitierte Text von Axel Roch und Bernhard Siegert an. Innerhalb von 10 Seiten wird hier nicht nur historisch, sondern auch epistemologisch die "Verfolgung" als Merkmal der Echtzeit erarbeitet. Außerdem zielt der Artikel auf eine Beschreibung von Objektbeziehungen ab.


Textverweise


  1. Wolfgang Ernst: Der Historisierung widerstehen: Die Insistenz der Kybernetik - Eine Aktualisierung des Beitrags "Der Kybernetik neue Kleider", in: Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft (grkg), Bd. 50. Heft 1 (März 2009), 63-72. Online unter: https://www.musikundmedien.hu-berlin.de/de/medienwissenschaft/medientheorien/texte-zur-medienarchaeologie/Kybernetik-grkg.pdf (zuletzt aufgerufen am: 25.08.2017)
  2. Clara Rybaczek: Potenzial wider Erwarten. Mediale Dysfunktion als Einsichts- und Erfahrungsmöglichkeit. In: Re:Medium - Standortbestimmungen zwischen Medialität und Mediatisierung. hrsg. von Simone Brühl, Jakob C. Heller. Marburg 2014. S. 49.
  3. Axel Roch, Bernhard Siegert: Maschinen, die Maschinen verfolgen - Über Claude E. Shannons und Norbert Wieners Flugabwehrsysteme. In: Konfigurationen - Zwischen Kunst und Medien. hrsg. von Sigrid Schade, Georg Christoph Tholen. München 1999. S. 219.