Amr (Imperativ, Gebieten)

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Der Begriff amr (pl. awāmir) wird unter anderem mit „Gebieten“, „Befehl“, „Anweisung“ oder „Aufforderung“[1] übersetzt. In der uṣūlī-Fachsprache wird für amr auch die Übersetzung „Imperativ“[2] genutzt.

Abū l-Muẓaffar Manṣūr b. Muḥammad b. as-Samʿānī (426/1034 in Khurasan geboren, 489/1095 in Marw gestorben) setzt sich in seinem Werk Qawātiʿ al-adilla fī l-uṣūl ausführlich mit dem Begriff des amr auseinander.

Unter der Überschrift ḥadd al-amr[3] diskutiert as-Samʿānī, wie der Begriff des Imperativs zu verstehen ist. As-Samʿānī definiert den Imperativ als das Verlangen (istidʿāʾ, pl. istidʿāʾāt) einer Handlung (fiʿl, pl. afʿāl, fiʿāl), und zwar durch die Äußerung an denjenigen, der hierarchisch unter demjenigen stehe, der die Handlung verlange.[4] Weiterhin, so erklärt as-Samʿānī, sei es ein Imperativ der Formulierung (ṣīġa, pl. ṣiyaġ) und nicht ein Imperativ des Willens (irāda, pl. irādāt).[5] So wird as-Samʿānī zufolge ein Imperativ alleine durch seine Formulierung verstanden und nicht durch den Willen, der durch einen Imperativ verfolgt wird. Hier grenzt sich as-Samʿānī, der selbst die ašʿaritische Vorstellung vertritt, deutlich von der muʿtazilitischen Vorstellung ab, bei der der Wille der Handlung, der hinter der Formulierung des Imperativs steckt bzw. die Absicht, die durch die Formulierung des Imperativs verfolgt wird, von großer Bedeutung ist. So schreibt as-Samʿānī, in der muʿtazilitischen Vorstellung sei der Imperativ der Wille einer Handlung durch die Äußerung an denjenigen, der hierarchisch unter demjenigen stehe, der die Handlung verlange.[6]

As-Samʿānī zufolge macht also alleine die Formulierung die Handlung zu einem Imperativ. Somit muss der Wille nach dieser Handlung bzw. die Absicht, die mit dem Imperativ verknüpft ist, nicht erwähnt werden. In der muʿtazilitischen Vorstellung jedoch, gegen die as-Samʿānī sich wendet, ist der Wille der Handlung bzw. die Absicht, die mit der Handlung verknüpft ist, wichtig. Für as-Samʿānī ist diese unterschiedliche Sichtweise eine uṣūlī-Streitfrage.[7]

Um seine Sichtweise zu bestärken argumentiert as-Samʿānī, es sei durchaus möglich gewesen, dass Gott Handlungen befahl, obwohl er diese Handlungen nicht wollte bzw. wusste, dass diese nicht befolgt würden.[8] As-Samʿānī gibt hierzu folgende koranische Beispiele:

Gott hatte Iblīs die Niederwerfung vor Adam befohlen – Iblīs jedoch verneigte sich nicht vor Adam (Koran 2:34). Gott hatte Adam verboten, vom Baum zu essen – Adam jedoch aß vom Baum (Koran 2:35-36). Gott hatte Ibrāhīm befohlen, seinen Sohn zu töten – Gott nahm seinen Befehl jedoch wieder zurück (Koran 37:99-113). As-Samʿānī argumentiert hier, dass diese Handlungen – wären sie wirklich Gottes Wille und seine Absicht gewesen – geschehen wären, denn wenn Gott wolle, dass etwas geschehe, dann geschehe es unvermeidlich.[9]

Diese Erzählung überträgt as-Samʿānī auf das Verhältnis vom Diener zu seinem Herrn. So weist as-Samʿānī mit einer rationalen Argumentation darauf hin, dass auch ein Herr seinem Diener befehle, etwas auf eine bestimmte Art und Weise zu machen. Der Diener führe die ihm befohlene Handlung auf die ihm aufgetragene Art und Weise aus, obwohl er die Absicht (murād, pl. murādūn), die sein Herr mit dieser Handlung verfolge, nicht kenne.[10] Dies zeige, dass der Imperativ ein Befehl durch seine Formulierung sei.[11] Somit gilt hier alleine die Formulierung des Imperativs, auch wenn wir den Willen desjenigen, der befiehlt, nicht kennen. Mit dem Willen hat der Imperativ nichts zu tun.

In der ašʿaritischen Vorstellung reicht alleine die Formulierung des Imperativs um den Befehl auszuführen. In der muʿtazilitischen Vorstellung hingegen reicht die Formulierung des Imperativs alleine nicht aus. Der Wille, der hinter dem Imperativ steckt und die Absicht, die mit dem Imperativ verfolgt wird, sind in der muʿtazilitischen Vorstellung entscheidend.


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Mehrere Texte des Korans und der Sunna enthalten imperative Formen des Verbs (awāmir), die wörtlich Befehle bedeuten. Die Hauptfrage zu diesem Thema ist, ob imperative Formen Verpflichtungen oder nur Empfehlung implizieren. Unter klassischen Šīʿī-Rechtstheoretikern gibt es zu diesem Thema zwei unterschiedliche Ansätze. Erstens gibt es jene Gelehrten (al-Šarīf al-Murtaḍā, 1348H, Bd. 1, S. 38-39), die behaupten, dass die wörtliche oder reale (ḥaqīqī) Bedeutung der imperativen Form sowohl als aus einer Verpflichtung als auch aus einer Empfehlung besteht. Daher kann ein gegebener Fall einer imperativen Form ausschließlich eine Verpflichtung oder Empfehlung implizieren, wenn weitere Indikatoren für den Fall vorliegen, um eine solche ausschließliche Bedeutung zu rechtfertigen.

Dem zweiten Ansatz sind jene Gelehrte (al-Ṭūsī, 1376H, Bd. 1, S. 171-72) zuzuordnen, die glauben, dass die imperativen Formen immer eine Verpflichtung impliziert, sofern nicht anders ausgedrückt. Das bedeutet, dass es in einem bestimmten Fall einen Indikator gibt, der eine Empfehlung konnotiert. Zeitgenössische Šīʿī-Rechtstheoretiker befürworten häufig den letzteren Ansatz. Daher ist nach der zeitgenössischen Šīʿī-Rechtstheorie die wörtliche oder reale (ḥaqīqī) Bedeutung der imperativen Form die Verpflichtung, während die Empfehlung die figurative (majāzī) Bedeutung dieser Form ist (al-Ḫurāsānī, 1409H, S. 70).

Daher sind weitere Beweise erforderlich, um eine bildliche Bedeutung eines imperativen Verbs als die beabsichtigte Bedeutung eines bestimmten Falles zu akzeptieren.


Autor*innen und Quellenangaben

Dieser Artikel wurde verfasst von: Selma Schwarz und Mehrdad Alipour


Quellen:


Al-Ḫurāsānī, Muḥammad Kāẓim. (1409). Kifāyat al-Uṣūl. Qum, Iran: Mu’assasa Āl al-Bayt li Iḥyā al-Turāth.


Al-Šarīf al-Murtaḍā, Abū al-Qāsim ʿAli b. al-Ḥusayn. (1348Sh). Al-Ḏarīʿa ilā Uṣūl al-Šarīʿa. Abū al-Qāsim Gurjī (ed.). Tehran, Iran: Intishārāt-i Dānishgāh-i Tehran.


Al-Ṭūsī, Muḥammad b. Ḥasan. (1376Sh). Al-ʿUdda fī Uṣūl al-fiqh. Muḥammad Riḍā Anṣārī (ed.). Qum, Iran: Intishārāt-i Sitārih.

  1. Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch–Deutsch, Wiesbaden: Harrassowitz, 1985, S. 40.
  2. Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch–Deutsch, Wiesbaden: Harrassowitz, 1985, S. 735. Im Folgenden wird für den Begriff amr das Wort „Imperativ“ genutzt.
  3. Der Begriff ḥadd wird unter anderem übersetzt mit „Beschränkung“, „äußerste Grenze“ und „Maß“, siehe Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch–Deutsch, Wiesbaden: Harrassowitz, 1985, S. 233. Ḥadd al-amr könnte demnach mit „Definition des Befehls“ übersetzt werden.
  4. Ḥaddu l-amri annahu stidʿāu l-fiʿli bi-l-qawli miman huwa dūnahu, siehe as-Samʿānī, Qawātiʿ, S. 42.
  5. Ṯumma huwa amrun bi-ṣīġatihi wa-laysa amrun bi-l-irādati, siehe as-Samʿānī, Qawātiʿ, S. 42.
  6. Ḥaddu l-amri annahu irādatu l-fiʿli bi-l-qawli miman huwa dūnahu, siehe as-Samʿānī, Qawātiʿ, S. 43.
  7. Wa-hāḏihi l-masʾalatu uṣūlīyatun, siehe as-Samʿānī, Qawātiʿ, S. 43.
  8. Fa-inna ʿindanā yaǧūzuʾan yaʾmur bi-š-šayʾi wa-in kāna lā yurīduhu, siehe as-Samʿānī, Qawātiʿ, S. 43.
  9. Wa-hāḏā li-anna mā arāda llāhu taʿālā an yakūn lā budda an yakūn, siehe as-Samʿānī, Qawātiʿ, S. 43.
  10. Wa-li-anna s-sayyidu iḏā qāla li-ʿabdihi: ifʿal kaḏā, yuqālu: amarahu bi-kaḏā wa-in lam yaʿlam murāduhu, siehe as-Samʿānī, Qawātiʿ, S. 43.
  11. Fa-dalla anna l-amra amrun bi-ṣīġatihi, siehe as-Samʿānī, Qawātiʿ, S. 43.