Nahy (Untersagung, Verbieten)

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Der Begriff nahy wird mit "Untersagung" oder "Verbieten"[1] übersetzt. Im Bereich des islamischen Rechts stellt der Begriff nahy einen Gegensatz zum Begriff amr dar, der unter anderem als "Imperativ" oder "Befehl" übersetzt wird.[2]

Koran und Hadith

In verschiedenen Versen verwendet der Koran den Begriff nahy und seine Ableitungen, wie yanhā, tanhā, yanhawna, die oft mit Verbot, verboten oder Verhinderung übersetzt werden.[3] Auch in der Hadith-Literatur werden der Begriff nahy sowie verschiedene prohibitive Formen von Verben häufig verwendet. Muslimische Gelehrte verstehen sie meist derart, dass sie sich entweder auf verbotene (ḥarām) Handlungen oder auf verpönte (makrūh) Verhaltensweisen beziehen.[4]

Islamische Rechtstheorie

Nahy in der sunnitischen Rechtstheorie

Abū l-Muẓaffar Manṣūr b. Muḥammad b. as-Samʿānī (gest. 489/1095) setzt sich in seinem Werk Qawāṭiʿ al-adilla fī l-uṣūl ausführlich mit dem Begriff des nahy auseinander. Er definiert nahy – die Untersagung – als "das Verlangen der Unterlassung der Handlung durch die Äußerung an denjenigen, der hierarchisch unter demjenigen stehe, der das Unterlassen der Handlung verlange. [5]Dies geschehe durch einen verneinten Imperativ, so as-Samʿānī.[6]

As-Samʿānī ist der Meinung, dass alleine die Formulierung (ṣīġa) der Untersagung für das Verbot (taḥrīm) notwendig sei.[7] So bedeute also alleine die Formulierung einer Untersagung ein Verbot. Die Ansicht as-Samʿānīs steht im Gegensatz zur muʿtazilitischen Vorstellung, bei der ein Beweis bzw. ein Hinweis (dalīl, pl. adilla) für die Forderung eines Verbots benötigt wird und bei der der Beweis bzw. der Hinweis für ein Verbot entscheidend ist.[8]

As-Samʿānī schreibt, die Äußerung einer Person mit den Worten "Mach das nicht!" an eine andere Person gewiss die Forderung der Unterlassung der Handlung verlange, ebenso wie die Äußerung einer Person mit den Worten "Mach das!" gewiss die Forderung der Handlung verlange.[9] As-Samʿānī zufolge ist die Aufforderung, eine Handlung zu vollziehen, als Verpflichtung (īǧāb) einzuordnen, wie er bereits in seiner Diskussion zu dem Begriff des Imperativs (amr) darstellte. Und so verlange die Forderung der Unterlassung der Handlung das Verbot.[10]

Als ein Beispiel für die Legitimität dieser Meinung weist as-Samʿānī auf das Verhältnis von einem Sklaven zu seinem Herrn hin: Wenn ein Herr seinem Sklaven befehle, etwas nicht zu tun, der Sklave diese Handlung aber dennoch ausführe, so verdiene der Sklave Missbilligung (ḏamm) und Tadel (tawbīḫ). Hätte der Herr jedoch kein Verbot gemeint, hätte der Sklave für seine Handlung keinen Tadel und keine Missbilligung zu befürchten.[11]

Anzumerken ist, dass as-Samʿānī in dem Textabschnitt, in dem er den Begriff nahy diskutiert, keine koranischen Beispiele anführt, ganz im Gegensatz dazu, wie er dies in seiner Diskussion zu dem Begriff amr tat.

Nahy in der schiitischen Rechtstheorie

Der Begriff nahy wird in schiitischen Quellen ähnlich wie in sunnitischen Quellen definiert. Es gibt Textstellen aus dem Koran und der Sunna, die mit Derivaten des nahy verbote ausdrücken. Die Hauptdiskussion im Rahmen von nahy, ob Verbotsformen auf ein Verbot, also auf ḥarām schließen lassen, oder die Folge daraus nur karāha, also das Verpönt-Sein einer Handlgun folgt.[12] In der schiitischen Rechtstheorie gibt es zu dieser Frage zwei verschiedene Ansätze. Erstens vertreten Gelehrte[13], dass die wörtliche oder tatsächliche (ḥaqīqī) Bedeutung der Verbotsform weder Verbot noch das Verpönt-Sein ist, sondern die bloße Vermeidung der Begehung einer bestimmten Handlung oder eines bestimmten Verhaltens. Somit sind sowohl Verbot als auch Abneigung die bildlichen Implikationen der Verbotsformen. Die zweite Sichtweise ist der Standardansatz der zeitgenössischen schiitischen Rechtstheorie[14], nach der die Verbotsform im wirklichen Sinne auf ein Verbot hindeutet. Jede weitere Deutung, wie etwa, dass eine Handlung nicht verboten, sondern nur verpönt ist, käme der Verwendung eines nahy im übertragenen Sinne (also in Form von maǧāz) gleich. Entsprechend werden für solch eine Deutung weitere Beweise und Indizien vorausgesetzt.

Literatur

Quellen

Al-H̱urāsānī, Muḥammad Kāẓim. Kifāyat al-Uṣūl. Qum, Iran: Mu’assasa Āl al-Bayt li Iḥyā al-Turāṯ, 1988-9/1409H. Al-Muẓaffar, Muḥammad Riḍā. Usūl al-Fiqh. Qum, Iran: Maktabat al-Aʿlām al-Islāmi, 1994-5/1373Sh. Al-Ṭūsī, Muḥammad b. Ḥasan. Al-ʿUdda fī Uṣūl al-fiqh. Muḥammad Riḍā Anṣārī (ed.). Qum, Iran: Intishārāt-i Sitārih, 1997-8/1376Sh.

Weiterführende Literatur

  • Al-Ṣadr, Muḥammad Bāqir. (2003). Durūs fī ʿIlm al-Uṣūl (Lessons in Islamic Jurisprudence, Vol. 1). Trans. Roy Mottahedeh. Oxford, UK: Oneworld Publications (pp. 80-86).
  • Kamali, Muhammad Hashim. (2011). Principles of Islamic jurisprudence (Chap. 6). London, UK: The Islamic Texts Society.

Autor*innen und Quellenangaben

Dieser Artikel wurde verfasst von: Selma Schwarz und Mehrdad Alipour

  1. In diesem Artikel wird für den Begriff nahy "Untersagung" als Übersetzung genutzt.
  2. Interessant hierbei ist der Begriff an-nahy wa-l-amri – die "unumschränkte Gewalt", die "Befehlsgewalt".
  3. Siehe beispielsweise Q. 3:104, 110, 114; 6:56; 16:90; 29:45; 40:66; 79:40; 96:9. Siehe die englische Übersetzung der relevanten Verse in Qarib, Sarwar, Shakir, Pickthall, and Yusufali: http://www.parsquran.com/data/showall.php?sura=1&ayat=1&user=far&lang=eng.
  4. Siehe Bābakr, Aḥmad Ibrāhīm and Ḥamad, Muḥammad ʿAlī. “Uslūb al-Nahy wa Dilālatuhu fi al-Ḥadīṯ al-Šarīf”. Maǧalla al-ʿUlūm wa al-Buḥūṯ al-Islāmiyya. 20(1), 2019, pp. 49-50.
  5. Siehe as-Samʿānī, Abū l-Muẓaffar Manṣūr b. Muḥammad b. Qawāṭiʿ al-adilla fī l-uṣūl, Hg. Dr. Nāǧī as-Sawīd. Libanon: Al-Maktaba al-ʿAṣrīya, 2011, S. 100: Ḥaqīqati n-nahy fa-huwa stidʿāʾu l-fiʿli bi-l-qawli mimman huwa dūnahu.
  6. Siehe as-Samʿānī, Qawāṭiʿ, S. 100: Huwa qawlu l-qāʾili li-ġayrihi: lā tafʿal.
  7. Siehe as-Samʿānī, Qawāṭiʿ, S. 100: Wa-ṣīġatu n-nahy muqtaḍīyatu li-l-taḥrīmi.
  8. Siehe as-Samʿānī, Qawāṭiʿ, S. 100.
  9. Siehe as-Samʿānī, Qawāṭiʿ, S. 100: Lā tafʿal yaqtaḍī ṭalaba tarki l-fiʿli lā maḥālata [...] ifʿal yaqtaḍī ṭalaba l-fiʿli lā maḥālata.
  10. Siehe as-Samʿānī, Qawāṭiʿ, S. 100: Fa-ṭalabu tarki l-fiʿli lā maḥālata yaqtaḍī taḥrīma.
  11. Siehe as-Samʿānī, Qawāṭiʿ, S. 100.
  12. Al-H̱urāsānī, Muḥammad Kāẓim. Kifāyat al-Uṣūl. Qum, Iran: Mu’assasa Āl al-Bayt li Iḥyā al-Turāṯ, 1988-9/1409H, S. 149.
  13. Al-Ṭūsī, Muḥammad b. Ḥasan. Al-ʿUdda fī Uṣūl al-fiqh, Hg. Muḥammad Riḍā Anṣārī, Qum, Iran: Intishārāt-i Sitārih, 1997-8/1376H, Band 1, S. 256.
  14. Al-Muẓaffar, Muḥammad Riḍā. Usūl al-Fiqh. Qum, Iran: Maktabat al-Aʿlām al-Islāmi, 1373Sh, Band 1, S. 149.