Ḥusn (Gutes): Unterschied zwischen den Versionen

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Der arabische Begriff ''ḥusn'' wird ins Deutsche unter anderem mit "Schönheit", "Vorzüglichkeit" oder "Trefflichkeit" übersetzt. Er leitet sich von dem Verb ''ḥasuna'' ab, was ins Deutsche unter anderem mit "schön sein", "gut sein" oder "recht sein" übersetzt wird.<ref>Hans Wehr, ''Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch–Deutsch'', Wiesbaden: Harrassowitz, 1985, S. 257.</ref>
Der arabische Begriff ''ḥusn'' wird ins Deutsche unter anderem mit "Schönheit", "Vorzüglichkeit" oder "Trefflichkeit" übersetzt. Er leitet sich von dem Verb ''ḥasuna'' ab, was ins Deutsche unter anderem mit "schön sein", "gut sein" oder "recht sein" übersetzt wird.<ref>Hans Wehr, ''Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch–Deutsch'', Wiesbaden: Harrassowitz, 1985, S. 257.</ref>
Al-ḥusn und al-qubḥ wurden aus zwei verschiedenen Bereichen der islamischen Tradition diskutiert:
1) Der erste Bereich befasste sich mit der Frage, ob al-ḥusn (Schönheit, Vorzüglichkeit) und al-qubḥ (Hässlichkeit) tatsächlich existieren, unabhängig von den göttlichen Geboten. Bei dieser Frage ging es um eine moralische Ontologie, die die Existenz von Gut und Böse im Allgemeinen oder genauer die Existenz von Gut und Böse einer bestimmten Sache umfasste. Diese Frage ist sinnvoll, wenn man erkennt, dass Dinge (Handlungen und Verhaltensweisen) nach Ansicht der klassischen Muslime als existierende Einheiten betrachtet wurden. Daher könnte man genau (wie Muʿtazilīs es taten) für die Existenz von Gut und Böse der Dinge argumentieren. Kurz erklärt, in Übereinstimmung mit dem klassischen Ansatz, würde eine bestimmte Sache als eine Substanz (ǧawhar) betrachtet werden. Dann würde das Gute oder Böse, das diesem Ding zugeschrieben werden könnte, als ein bestehender Akzidenz (ʿaraḍ) oder Aspekt (waǧh) dieser Substanz (ǧawhar = Ding) angesehen werden.
2) Der zweite Bereich des Problems war wie folgt: Unter der Annahme, dass das Gute und das Böse tatsächlich existieren, können Menschen diese nur anhand ihres Intellekts/ihrer Vernunft (al-ʿaql) erkennen? Das wesentliche Anliegen hierbei war die Frage, ob das Erfassen der Gute oder des Bösen einer Handlung im Bereich der rationalen Bewertung (ḥukm) jenseits der göttlichen Gebote oder Offenbarungen liegt. Dies war eine erkenntnistheoretische Frage.
In Bezug auf die erste Frage, nämlich das ontologische Dilemma, argumentierte die muʿtazilitische Schule hauptsächlich, dass Gut und Böse tatsächlich als Akzidenz oder Aspekt einer bestimmten Sache (Handlung oder Verhalten) existieren.<ref>Abū Rashīd al-Niyšābūrī, Saʿīd b. Muḥammad. ''Kitāb al-Masā’il fī al-ḫilāf bayn al-Baṣrīīn wa al-Baġdādīīn''. Arthur Biram (ed.). Berlin, Germany: Druck von H. Itzkowski, 1902 (Retrieved in March 2021 from: <nowiki>https://books-library.online/files/download-pdf-ebooks.org-kupd-3296.pdf</nowiki>), 16-20.</ref>
Darüber hinaus artikulierten muʿtazilitische Gelehrte Gut und Böse unter den allgemeinen Konzepten von Gerechtigkeit (ʿadl) bzw. Ungerechtigkeit (ẓulm). Andererseits wird Gott nach muʿtazilitischer Ansicht als gerecht angesehen (ʿādil). Daher behandelt Gott seine Diener nur auf der Grundlage von Gerechtigkeit. So erfordert die Güte einer bestimmten Handlung logischerweise, dass Gott seinen Diener befiehlt, gute Handlungen auszuführen. Ebenso erfordert die Bösartigkeit einer bestimmten Handlung logischerweise, dass Gott seinen Diener verbietet, die böse Handlung oder das böse Verhalten zu begehen.
In Bezug auf die erkenntnistheoretische Frage glaubten die muʿtazilitischen Gelehrten, dass die Fähigkeit der Vernunft bzw. des Intellekts in der Lage ist, die Güte und das Böse der Dinge zu erfassen, und so den moralischen Wert von Handlungen ohne oder über die göttlichen Gebote hinaus beurteilen kann.<ref>ʿAbdaljabbar, al-Qāḍī Abū al-Ḥasan, ''Al-Muġnī fī Abwāb al-Tawḥīd wa al-ʿAdl''. Cairo, Egypt: Mu’assasa al-Miṣriyya al-ʿĀmma li al-Ta’līf wa al-Nashr, 1968, 11: 384.</ref>


== Islamisches Recht ==
== Islamisches Recht ==
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Dennoch schreibt as-Samʿānī, es gebe zwei Formen des Guten (''wa-anna l-ḥusna ḍarbāni'') – zum einen die Form einer Erkenntnis durch den Verstand (''ḍarbu ʿilmin bi-l-ʿaqli''), zum anderen die Form einer Erkenntnis durch das Gehör (''ḍarbu ʿilmin bi-l-samʿi''). Weiterhin schreibt as-Samʿānī, zum Guten, das durch den Verstand bekannt sei, gehöre die Gerechtigkeit (''ʿadl''), die Aufrichtigkeit (''ṣadq'') und die Dankbarkeit (''šukr an-naʿma'') und zum Guten, das durch die Offenbarung bekannt sei, gehöre das Gebet (''ṣalāt''), das Fasten (''ṣiyām''), die Almosen (''zakāt'') und die Hadsch (''ḥaǧǧ'').<ref>Siehe as-Samʿānī, ''Qawāṭiʿ'', S. 42-43.</ref>
Dennoch schreibt as-Samʿānī, es gebe zwei Formen des Guten (''wa-anna l-ḥusna ḍarbāni'') – zum einen die Form einer Erkenntnis durch den Verstand (''ḍarbu ʿilmin bi-l-ʿaqli''), zum anderen die Form einer Erkenntnis durch das Gehör (''ḍarbu ʿilmin bi-l-samʿi''). Weiterhin schreibt as-Samʿānī, zum Guten, das durch den Verstand bekannt sei, gehöre die Gerechtigkeit (''ʿadl''), die Aufrichtigkeit (''ṣadq'') und die Dankbarkeit (''šukr an-naʿma'') und zum Guten, das durch die Offenbarung bekannt sei, gehöre das Gebet (''ṣalāt''), das Fasten (''ṣiyām''), die Almosen (''zakāt'') und die Hadsch (''ḥaǧǧ'').<ref>Siehe as-Samʿānī, ''Qawāṭiʿ'', S. 42-43.</ref>


In Bezug auf den Umgang der schiitischen Schule zu al-ḥusn (Güte) und al-qubḥ (Bösartigkeit) vertraten die frühen schiitischen Imāmī-Gelehrten eine ähnliche Position wie der muʿtazilitische Ansatz. Daher argumentierten sie, dass Güte und Böse von Handlungen tatsächlich existieren, unabhängig von den göttlichen Geboten.<ref>Al-Šarīf al-Murtaḍā, Abū al-Qāsim ʿAli b. al-Ḥusayn, ''al-Mulaḫḫaṣ fī Uṣūl al-Dīn'', Tehran: Markazi Nashr-i Dānishgāhī, 2002-3/1381Sh, 306–07 ; al-Ṭūsī, Muḥammad b. Ḥasan, ''Tamhīd al-Uṣūl fī ʿIlm al-Kalām''. Qum, Iran: Rā’id, 2015-6/1394Sh, 160–63.</ref>
Ähnlich wie in der muʿtazilitschen Schule glaubten frühe schiitische Gelehrte, dass Menschen die Güte oder das Böse von Handlungen durch ihren Intellekt bzw. ihre Vernunft erkennen können (al-ʿaql).<ref>Al-Šarīf al-Murtaḍā, ''al-Mulaḫḫaṣ fī Uṣūl al-Dīn'', 309–11; al-Ṭūsī, ''Tamhīd al-Uṣūl fī ʿIlm al-Kalām'', 164–69.</ref>
Dies bedeutet, dass seitens dieser Gelehrten, die Vernunft  als Quelle ethischer Werte angesehen wurde. Aus diesem Grund argumentiert al-Šarīf al-Murtaḍā, dass jene göttlichen Gebote, deren Güte die Vernunft bzw. der Verstand erkennt und unabhängig von Befehlen versteht, ausschließlich die Betonung (irshādī) des rationalen Verständnis oder der rationalen Bewertung sind.<ref>Al-Šarīf al-Murtaḍā, ''Rasā’il'', Qum, Iran: Dār al-Qur’ān al-Karīm, 1985-6/1364Sh, 141.</ref>
Die Bewegung des Aābārī (Schriftsteller) im 16. Jahrhundert, die von Muḥammad Amīn al-Astarābādī (gest. 1036H / 1626–27) gegründet wurde, lehnte jedoch den früheren schiitischen Ansatz ab. Während sie an die Existenz von Gut und Böse glaubten, unabhängig der Gebote Gottes, (Al-Astarābādī, Muḥammad Amīn, ''al-Fawā’id al-Madaniyya'', Qum, Iran: Mu’assasa al-Nashr al-Islāmī, 2005-6/1426H, 447.) widerlegten sie die Fähigkeit der Vernunft bzw. des Intellekts, sie ohne göttliche Führung zu verstehen. Daher kann die Vernunft ihrer Ansicht nach keine Quelle für die moralische Beurteilung von Handlungen sein. Stattdessen war das göttliche Gesetz (al-šarʿ) der einzigartige Bewerter von Handlungen in ihrem Ansatz.<ref>Al-Astarābādī, ''al-Fawā’id al-Madaniyya'', 278 und 328.</ref>
Durch die Niederlage der Aḫbārī-Schule im späten 18. Jahrhundert wurde sowohl die Existenz von Gut und Böse jenseits der Gebote Gottes als auch die Fähigkeit sie zu erfassen, in der schiitischen Wissenschaft, insbesondere in der Imāmī-Rechtstheorie, erneut kontrovers diskutiert .
Post-Aḫbārī Imāmī-Gelehrte, die häufig für die Existenz von Gut und Böse argumentieren, die über Gottes Gebote hinausgehen, kategorisierten die Vernunft häufig als Quelle moralischer Bewertung von Handlungen. Bis dahin manifestierte sich der Imāmī-Diskurs von al-ḥusn und al-qubḥ jedoch im Allgemeinen in einem Prinzip, das als „logisch inhärente Übereinstimmung zwischen rationaler Bewertung und göttlichem Gesetz“ bezeichnet wird (mulāzamat ḥukm al-ʿaql wa al-šarʿ).<ref>Al-Ġarawī al-Iṣfahānī, Muḥammad Ḥusayn, ''Nihāyat al-Dirāya fi Šarh al-Kifāya'', Mahdī Aḥadī (ed.), Qum, Iran: Intišārāt-i Sayyid al-Šuhadā’, 1995-6/1374Sh, 2: 320–30; al-Nā’īnī, Mīrzā Ḥusayn, ''Fawā’id al-Uṣūl'', Written by Muḥammad ʿAlī al-Kāẓimī. Qum, Iran: Daftar-i Intišārāt-i Islāmī, 1986-7/1406H, 3: 60–62.</ref>
Dieses Prinzip impliziert, dass das was die Vernunft als die Güte oder Bösartigkeit einer Handlung ansieht, grundsätzlich von den Gesetzesgebern angenommen wird. Das bedeutet, dass es eine Bewertung (hukm) seitens der Gesetzesgeber, nämlich Gott, der Prophet oder einer der zwölf Imāme, gesetzlich geregelt wird.
Es gibt jedoch eine allgemein anerkannte erkenntnistheoretische Regel in schiitischer iǧtihād, die eine endgültige Stellungnahme zu moralischen oder rechtlichen Einschätzungen erfordert. Basierend auf dieser Regel muss die rationale Bewertung endgültig sein, um von den islamischen Gesetzgebern akzeptiert zu werden, da nicht definitive Argumente oder unsichere Meinungen (al-ẓunūn) per se keine Beweiskraft (ḥǧǧiyya) im schiitischen Kontext haben.<ref>Al-Muẓaffar, Muḥammad Riḍā, ''Uṣūl al-Fiqh'', Qum, Iran: Maktabat al-Aʿlām al-Islāmi, 1994-5/1373Sh, 2:118–19.</ref>
Schiitische Gelehrte begründen die epistemische Gültigkeit des Prinzips von Mulāzamat ḥukm al-ʿaql wa al-šarʿ wie folgt: Nicht nur Gott, der Prophet und die Zwölf Imāms sind Mitglieder rationaler Wesenheiten, sondern sie sind die Meister rationaler Wesen. Wenn also Menschen als rationale Einheiten die Güte oder Bösartigkeit einer bestimmten Sache rationalisieren oder eine Handlung auf endgültige Weise moralisch bewerten, sollten die Gesetzgeber mit ihnen einverstanden sein, weil die Gesetzgeber selbst Mitglieder und auch  Herrscher von rationale Einheiten.<ref>Al-Ġarawī al-Iṣfahānī, ''Nihāyat al-Dirāya fi Šarh al-Kifāya'', 2:320; al-Muẓaffar, ''Uṣūl al-Fiqh'', 2:120.</ref>
Dieser Artikel wurde verfasst von: Selma Schwarz und Mehrdad Alipour
Literature:
Bhojani, Ali-Reza. ''Moral Rationalism and the Sharīʿa: Independent rationality in modern Shiʿi uṣūl al-fiqh'', London, UK: Routledge, 2015.
Gleave, Robert. “Value Ontology and the Assumption of Non-Assessment in Postclassical Shīʿa Legal Theory,” In ''Philosophy and Jurisprudence in the Islamic World'', Peter Adamson (ed.), Berlin, Germany: De Gruyter, 2019: 169–94.
Hourani, G. F. ''Reason and Tradition in Islamic Ethics''. Cambridge, UK: Cambridge University Press, 2007.
Reinhart, A. K. ''Before Revelation: The boundaries of Muslim moral thought''. Albany, NY: State University of New York Press, 1995.


Dieser Artikel wurde verfasst von: Selma Schwarz




'''Quellen:'''
'''Quellen:'''

Version vom 11. April 2021, 08:11 Uhr

Der arabische Begriff ḥusn wird ins Deutsche unter anderem mit "Schönheit", "Vorzüglichkeit" oder "Trefflichkeit" übersetzt. Er leitet sich von dem Verb ḥasuna ab, was ins Deutsche unter anderem mit "schön sein", "gut sein" oder "recht sein" übersetzt wird.[1]


Al-ḥusn und al-qubḥ wurden aus zwei verschiedenen Bereichen der islamischen Tradition diskutiert:


1) Der erste Bereich befasste sich mit der Frage, ob al-ḥusn (Schönheit, Vorzüglichkeit) und al-qubḥ (Hässlichkeit) tatsächlich existieren, unabhängig von den göttlichen Geboten. Bei dieser Frage ging es um eine moralische Ontologie, die die Existenz von Gut und Böse im Allgemeinen oder genauer die Existenz von Gut und Böse einer bestimmten Sache umfasste. Diese Frage ist sinnvoll, wenn man erkennt, dass Dinge (Handlungen und Verhaltensweisen) nach Ansicht der klassischen Muslime als existierende Einheiten betrachtet wurden. Daher könnte man genau (wie Muʿtazilīs es taten) für die Existenz von Gut und Böse der Dinge argumentieren. Kurz erklärt, in Übereinstimmung mit dem klassischen Ansatz, würde eine bestimmte Sache als eine Substanz (ǧawhar) betrachtet werden. Dann würde das Gute oder Böse, das diesem Ding zugeschrieben werden könnte, als ein bestehender Akzidenz (ʿaraḍ) oder Aspekt (waǧh) dieser Substanz (ǧawhar = Ding) angesehen werden.


2) Der zweite Bereich des Problems war wie folgt: Unter der Annahme, dass das Gute und das Böse tatsächlich existieren, können Menschen diese nur anhand ihres Intellekts/ihrer Vernunft (al-ʿaql) erkennen? Das wesentliche Anliegen hierbei war die Frage, ob das Erfassen der Gute oder des Bösen einer Handlung im Bereich der rationalen Bewertung (ḥukm) jenseits der göttlichen Gebote oder Offenbarungen liegt. Dies war eine erkenntnistheoretische Frage.


In Bezug auf die erste Frage, nämlich das ontologische Dilemma, argumentierte die muʿtazilitische Schule hauptsächlich, dass Gut und Böse tatsächlich als Akzidenz oder Aspekt einer bestimmten Sache (Handlung oder Verhalten) existieren.[2]


Darüber hinaus artikulierten muʿtazilitische Gelehrte Gut und Böse unter den allgemeinen Konzepten von Gerechtigkeit (ʿadl) bzw. Ungerechtigkeit (ẓulm). Andererseits wird Gott nach muʿtazilitischer Ansicht als gerecht angesehen (ʿādil). Daher behandelt Gott seine Diener nur auf der Grundlage von Gerechtigkeit. So erfordert die Güte einer bestimmten Handlung logischerweise, dass Gott seinen Diener befiehlt, gute Handlungen auszuführen. Ebenso erfordert die Bösartigkeit einer bestimmten Handlung logischerweise, dass Gott seinen Diener verbietet, die böse Handlung oder das böse Verhalten zu begehen.


In Bezug auf die erkenntnistheoretische Frage glaubten die muʿtazilitischen Gelehrten, dass die Fähigkeit der Vernunft bzw. des Intellekts in der Lage ist, die Güte und das Böse der Dinge zu erfassen, und so den moralischen Wert von Handlungen ohne oder über die göttlichen Gebote hinaus beurteilen kann.[3]

Islamisches Recht

Im Bereich des Islamischen Rechts wird ḥusn mit "Gutes" übersetzt. Ḥusn steht hier im Kontrast zu qubḥ, was mit "Gutes" übersetzt wird. Abū l-Muẓaffar Manṣūr b. Muḥammad b. as-Samʿānī (gest. 489/1095) bespricht in seinem Werk Qawāṭiʿ al-adilla fī l-uṣūl die Begriffe ḥusn und qubḥ im Zusammenhang mit dem Prinzip des Verbots (ḥaẓr) und der Erlaubnis (ibāḥa). Unter der Überschrift "die Streitfrage des Verbots und der Erlaubnis" (masʾala al-ḥaẓr wa-l-ibāḥa) erklärt as-Samʿānī, der Verstand sei kein Beweis für das Gute einer Sache und somit gebe es durch den Verstand auch keine Erlaubnis (wa-anna l-aqla bi-ḏātihi laysa bi-dalīlin ʿalā taḥsīni šayʾin [...] wa-lā ibāḥata), denn die religiöse Verpflichtung zeichne sich durch das Gehör aus und nicht durch den Verstand (anna l-taklīfa yaḫtaṣṣu bi-s-samʿi dūna l-ʿaqli).[4]

Dennoch schreibt as-Samʿānī, es gebe zwei Formen des Guten (wa-anna l-ḥusna ḍarbāni) – zum einen die Form einer Erkenntnis durch den Verstand (ḍarbu ʿilmin bi-l-ʿaqli), zum anderen die Form einer Erkenntnis durch das Gehör (ḍarbu ʿilmin bi-l-samʿi). Weiterhin schreibt as-Samʿānī, zum Guten, das durch den Verstand bekannt sei, gehöre die Gerechtigkeit (ʿadl), die Aufrichtigkeit (ṣadq) und die Dankbarkeit (šukr an-naʿma) und zum Guten, das durch die Offenbarung bekannt sei, gehöre das Gebet (ṣalāt), das Fasten (ṣiyām), die Almosen (zakāt) und die Hadsch (ḥaǧǧ).[5]

In Bezug auf den Umgang der schiitischen Schule zu al-ḥusn (Güte) und al-qubḥ (Bösartigkeit) vertraten die frühen schiitischen Imāmī-Gelehrten eine ähnliche Position wie der muʿtazilitische Ansatz. Daher argumentierten sie, dass Güte und Böse von Handlungen tatsächlich existieren, unabhängig von den göttlichen Geboten.[6]

Ähnlich wie in der muʿtazilitschen Schule glaubten frühe schiitische Gelehrte, dass Menschen die Güte oder das Böse von Handlungen durch ihren Intellekt bzw. ihre Vernunft erkennen können (al-ʿaql).[7]

Dies bedeutet, dass seitens dieser Gelehrten, die Vernunft  als Quelle ethischer Werte angesehen wurde. Aus diesem Grund argumentiert al-Šarīf al-Murtaḍā, dass jene göttlichen Gebote, deren Güte die Vernunft bzw. der Verstand erkennt und unabhängig von Befehlen versteht, ausschließlich die Betonung (irshādī) des rationalen Verständnis oder der rationalen Bewertung sind.[8]


Die Bewegung des Aābārī (Schriftsteller) im 16. Jahrhundert, die von Muḥammad Amīn al-Astarābādī (gest. 1036H / 1626–27) gegründet wurde, lehnte jedoch den früheren schiitischen Ansatz ab. Während sie an die Existenz von Gut und Böse glaubten, unabhängig der Gebote Gottes, (Al-Astarābādī, Muḥammad Amīn, al-Fawā’id al-Madaniyya, Qum, Iran: Mu’assasa al-Nashr al-Islāmī, 2005-6/1426H, 447.) widerlegten sie die Fähigkeit der Vernunft bzw. des Intellekts, sie ohne göttliche Führung zu verstehen. Daher kann die Vernunft ihrer Ansicht nach keine Quelle für die moralische Beurteilung von Handlungen sein. Stattdessen war das göttliche Gesetz (al-šarʿ) der einzigartige Bewerter von Handlungen in ihrem Ansatz.[9]

Durch die Niederlage der Aḫbārī-Schule im späten 18. Jahrhundert wurde sowohl die Existenz von Gut und Böse jenseits der Gebote Gottes als auch die Fähigkeit sie zu erfassen, in der schiitischen Wissenschaft, insbesondere in der Imāmī-Rechtstheorie, erneut kontrovers diskutiert .

Post-Aḫbārī Imāmī-Gelehrte, die häufig für die Existenz von Gut und Böse argumentieren, die über Gottes Gebote hinausgehen, kategorisierten die Vernunft häufig als Quelle moralischer Bewertung von Handlungen. Bis dahin manifestierte sich der Imāmī-Diskurs von al-ḥusn und al-qubḥ jedoch im Allgemeinen in einem Prinzip, das als „logisch inhärente Übereinstimmung zwischen rationaler Bewertung und göttlichem Gesetz“ bezeichnet wird (mulāzamat ḥukm al-ʿaql wa al-šarʿ).[10]

Dieses Prinzip impliziert, dass das was die Vernunft als die Güte oder Bösartigkeit einer Handlung ansieht, grundsätzlich von den Gesetzesgebern angenommen wird. Das bedeutet, dass es eine Bewertung (hukm) seitens der Gesetzesgeber, nämlich Gott, der Prophet oder einer der zwölf Imāme, gesetzlich geregelt wird.

Es gibt jedoch eine allgemein anerkannte erkenntnistheoretische Regel in schiitischer iǧtihād, die eine endgültige Stellungnahme zu moralischen oder rechtlichen Einschätzungen erfordert. Basierend auf dieser Regel muss die rationale Bewertung endgültig sein, um von den islamischen Gesetzgebern akzeptiert zu werden, da nicht definitive Argumente oder unsichere Meinungen (al-ẓunūn) per se keine Beweiskraft (ḥǧǧiyya) im schiitischen Kontext haben.[11]


Schiitische Gelehrte begründen die epistemische Gültigkeit des Prinzips von Mulāzamat ḥukm al-ʿaql wa al-šarʿ wie folgt: Nicht nur Gott, der Prophet und die Zwölf Imāms sind Mitglieder rationaler Wesenheiten, sondern sie sind die Meister rationaler Wesen. Wenn also Menschen als rationale Einheiten die Güte oder Bösartigkeit einer bestimmten Sache rationalisieren oder eine Handlung auf endgültige Weise moralisch bewerten, sollten die Gesetzgeber mit ihnen einverstanden sein, weil die Gesetzgeber selbst Mitglieder und auch  Herrscher von rationale Einheiten.[12]


Dieser Artikel wurde verfasst von: Selma Schwarz und Mehrdad Alipour


Literature:


Bhojani, Ali-Reza. Moral Rationalism and the Sharīʿa: Independent rationality in modern Shiʿi uṣūl al-fiqh, London, UK: Routledge, 2015.


Gleave, Robert. “Value Ontology and the Assumption of Non-Assessment in Postclassical Shīʿa Legal Theory,” In Philosophy and Jurisprudence in the Islamic World, Peter Adamson (ed.), Berlin, Germany: De Gruyter, 2019: 169–94.


Hourani, G. F. Reason and Tradition in Islamic Ethics. Cambridge, UK: Cambridge University Press, 2007.


Reinhart, A. K. Before Revelation: The boundaries of Muslim moral thought. Albany, NY: State University of New York Press, 1995.


Quellen:

  1. Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch–Deutsch, Wiesbaden: Harrassowitz, 1985, S. 257.
  2. Abū Rashīd al-Niyšābūrī, Saʿīd b. Muḥammad. Kitāb al-Masā’il fī al-ḫilāf bayn al-Baṣrīīn wa al-Baġdādīīn. Arthur Biram (ed.). Berlin, Germany: Druck von H. Itzkowski, 1902 (Retrieved in March 2021 from: https://books-library.online/files/download-pdf-ebooks.org-kupd-3296.pdf), 16-20.
  3. ʿAbdaljabbar, al-Qāḍī Abū al-Ḥasan, Al-Muġnī fī Abwāb al-Tawḥīd wa al-ʿAdl. Cairo, Egypt: Mu’assasa al-Miṣriyya al-ʿĀmma li al-Ta’līf wa al-Nashr, 1968, 11: 384.
  4. Siehe as-Samʿānī, Abū l-Muẓaffar Manṣūr b. Muḥammad b. Qawāṭiʿ al-adilla fī l-uṣūl, Hg. Dr. Nāǧī as-Sawīd. Libanon: Al-Maktaba al-ʿAṣrīya, 2011, S. 42.
  5. Siehe as-Samʿānī, Qawāṭiʿ, S. 42-43.
  6. Al-Šarīf al-Murtaḍā, Abū al-Qāsim ʿAli b. al-Ḥusayn, al-Mulaḫḫaṣ fī Uṣūl al-Dīn, Tehran: Markazi Nashr-i Dānishgāhī, 2002-3/1381Sh, 306–07 ; al-Ṭūsī, Muḥammad b. Ḥasan, Tamhīd al-Uṣūl fī ʿIlm al-Kalām. Qum, Iran: Rā’id, 2015-6/1394Sh, 160–63.
  7. Al-Šarīf al-Murtaḍā, al-Mulaḫḫaṣ fī Uṣūl al-Dīn, 309–11; al-Ṭūsī, Tamhīd al-Uṣūl fī ʿIlm al-Kalām, 164–69.
  8. Al-Šarīf al-Murtaḍā, Rasā’il, Qum, Iran: Dār al-Qur’ān al-Karīm, 1985-6/1364Sh, 141.
  9. Al-Astarābādī, al-Fawā’id al-Madaniyya, 278 und 328.
  10. Al-Ġarawī al-Iṣfahānī, Muḥammad Ḥusayn, Nihāyat al-Dirāya fi Šarh al-Kifāya, Mahdī Aḥadī (ed.), Qum, Iran: Intišārāt-i Sayyid al-Šuhadā’, 1995-6/1374Sh, 2: 320–30; al-Nā’īnī, Mīrzā Ḥusayn, Fawā’id al-Uṣūl, Written by Muḥammad ʿAlī al-Kāẓimī. Qum, Iran: Daftar-i Intišārāt-i Islāmī, 1986-7/1406H, 3: 60–62.
  11. Al-Muẓaffar, Muḥammad Riḍā, Uṣūl al-Fiqh, Qum, Iran: Maktabat al-Aʿlām al-Islāmi, 1994-5/1373Sh, 2:118–19.
  12. Al-Ġarawī al-Iṣfahānī, Nihāyat al-Dirāya fi Šarh al-Kifāya, 2:320; al-Muẓaffar, Uṣūl al-Fiqh, 2:120.