Ibāḥa (Erlaubnis): Unterschied zwischen den Versionen

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In der schiitischen Wissenschaft argumentiert al-Ṭūsī (d. 460/1067) in Übereinstimmung mit seinem Lehrer al-Šayḥ al-Mufīd, dass es nicht möglich ist zu behaupten, dass alle Dinge (al-ašyā') ohne einen Offenbarungsindikator prinzipiell verboten oder erlaubt sind. Daher scheint er an den dritten Ansatz zu glauben, nämlich die Aussetzung (al-tawaqqquf) des Urteils.  Allerdings plädiert al-Šarīf al-Murtaḍā (d. 436/1044) für eine grundsätzliche Erlaubnis für alle Dinge vor der Offenbarung (qabl al-šarʿ), es sei denn, die rationale Vernunft unterscheide etwas als schlecht oder böse (qabīḥ) oder als obligatorisch (wājib).  Dieser letztere Ansatz wurde zu einer allgemein akzeptierten Ansicht unter späteren schiitischen Gelehrten.  
In der schiitischen Wissenschaft argumentiert al-Ṭūsī (d. 460/1067) in Übereinstimmung mit seinem Lehrer al-Šayḥ al-Mufīd, dass es nicht möglich ist zu behaupten, dass alle Dinge (al-ašyā') ohne einen Offenbarungsindikator prinzipiell verboten oder erlaubt sind. Daher scheint er an den dritten Ansatz zu glauben, nämlich die Aussetzung (al-tawaqqquf) des Urteils <ref>al-Ṭūsī, 1997-8/1376Sh, 2: 742.</ref>.  Allerdings plädiert al-Šarīf al-Murtaḍā (d. 436/1044) für eine grundsätzliche Erlaubnis für alle Dinge vor der Offenbarung (qabl al-šarʿ), es sei denn, die rationale Vernunft unterscheide etwas als schlecht oder böse (qabīḥ) oder als obligatorisch (wājib) <ref>al-Šarīf al-Murtaḍā, 1969-70/1348Sh, 2: 809.</ref>.  Dieser letztere Ansatz wurde zu einer allgemein akzeptierten Ansicht unter späteren schiitischen Gelehrten.  




Es ist wichtig anzumerken, dass diese Diskussion ab al-Muḥaqqiq al-Ḥillī (gest. 676/1277) unter dem Prinzip der fundamentalen Nicht-Bewertung (al-barā'at al-aṣliyya) in schiitischer Rechtstheorie diskutiert wurde; sie wurde wie folgt kategorisiert: Alle Dinge (al-ashyā') sind frei von islamischer Rechtsordnung, d.h. sie sind hinsichtlich der Ermangelung einer direkten oder expliziten Regelung im Wesentlichen erlaubt.  
Es ist wichtig anzumerken, dass diese Diskussion ab al-Muḥaqqiq al-Ḥillī (gest. 676/1277 <ref>al-Ḥillī, 1983-4/1403H, p. 213.</ref> unter dem Prinzip der fundamentalen Nicht-Bewertung (al-barā'at al-aṣliyya) in schiitischer Rechtstheorie diskutiert wurde; sie wurde wie folgt kategorisiert: Alle Dinge (al-ashyā') sind frei von islamischer Rechtsordnung, d.h. sie sind hinsichtlich der Ermangelung einer direkten oder expliziten Regelung im Wesentlichen erlaubt <ref>Für eine extensive Diskussion über das Thema das fundamentale nicht-Bewerten in der Sekundärliteratur siehe Gleave, 2019. </ref>.  
   
   
Allerdings ist al-Ġazālī (gest. 505/1111) vielleicht die erste Person, die den Begriff al-barā'at al-aṣliyya in seinem rechtstheoretischen Meisterwerk mit dem Titel al-Mustaṣfā fī Uṣūl al-Fiqh reichlich verwendet hat.  
Allerdings ist al-Ġazālī (gest. 505/1111) vielleicht die erste Person, die den Begriff al-barā'at al-aṣliyya in seinem rechtstheoretischen Meisterwerk mit dem Titel al-Mustaṣfā fī Uṣūl al-Fiqh reichlich verwendet hat <ref>siehe beispielsweise al-Ġazālī, 1993, pp. 101, 103, 121, and 160.</ref>.  





Version vom 14. Dezember 2020, 12:31 Uhr

Al-ibāḥa bedeutet wörtlich übersetzt „Erlaubnis“. Es im islamischen Recht als das Prinzip der Zulässigkeit (qāʿidat al-ibāḥa) bekannt. Dieses Thema und seine Gegenteil, nämlich al-ḥaẓr (Verbot), werden seit der Entstehung der islamischen Rechtstheorie (uṣūl al-fiqh) von verschiedenen muslimischen Rechtsschulen diskutiert. In dieser Ausgabe geht um die zentrale Frage nach der grundsätzlichen Natur der Dinge (al-a šyā'), nämlich Subjekte, Handlungen oder Verhaltensweisen vor der Offenbarung (qabl al- šarʿ): Sind sie in der Natur oder grundsätzlich erlaubt oder verboten?


Diese Debatte wurde mit großer Wahrscheinlichkeit von muʿtazilitischen Rechtstheoretikern begonnen. Als Antwort auf die vorgenannte Frage stellt al-Jaṣṣāṣ al-Muʿtazilī (d. 370/981) in al-Fuṣūl fī al-Uṣūl mehrere Möglichkeiten [1] vor, welche als die drei folgenden Ansätze identifiziert werden können:


1. der Ansatz, der daran festhält, dass alle Dinge (al-a šyā') vor der Offenbarung (qabl al- šarʿ) oder ohne einen Offenbarungsindikator aus dem Koran oder der Sunna (Tradition) erlaubt (mubāḥ) sind, es sei denn, die rationale Vernunft unterscheidet etwas als schlecht oder böse (qabīḥ) oder als obligatorisch (wājib); 2. die Ansicht, die besagt, dass alle Dinge vor der Offenbarung (qabl al- šarʿ) als verboten (maḥẓūr) angesehen werden, es sei denn, die rationale Vernunft gebietet, dass etwas obligatorisch ist; 3. die Ansicht, die besagt, dass man zu all diesen Dingen nichts sagen kann - ob sie vor der Offenbarung erlaubt oder verboten sind vor der Offenbarung oder ohne einen Offenbarungsindikator aus dem Koran oder der Sunna (Tradition). Diese Ansicht wird als Aussetzung (al-tawaqqquf) des Urteils bezeichnet.


Al-Jaṣṣāṣ plädiert für den ersten Ansatz [2], nämlich die Erlaubnis, was eine weithin akzeptierte Ansicht der muʿtazilitische Gelehrten war. Einige wenige muʿtazilitische Gelehrte glauben jedoch, wie Ibn Qudāma zuschreibt [3], an die zweite Sichtweise, d.h. Verbot/Zulassung. Schließlich glauben eine Reihe von Gelehrten, die zumeist mit einer ašʿaritischen Rechtsschule in Verbindung stehen [4], an den dritten Ansatz, d.h. man kann nicht sagen, ob etwas verboten oder erlaubt ist, bevor man nicht einen Offenbarungsindikator aus dem Koran oder der Sunna (Tradition) erhalten hat [5].


In der schiitischen Wissenschaft argumentiert al-Ṭūsī (d. 460/1067) in Übereinstimmung mit seinem Lehrer al-Šayḥ al-Mufīd, dass es nicht möglich ist zu behaupten, dass alle Dinge (al-ašyā') ohne einen Offenbarungsindikator prinzipiell verboten oder erlaubt sind. Daher scheint er an den dritten Ansatz zu glauben, nämlich die Aussetzung (al-tawaqqquf) des Urteils [6]. Allerdings plädiert al-Šarīf al-Murtaḍā (d. 436/1044) für eine grundsätzliche Erlaubnis für alle Dinge vor der Offenbarung (qabl al-šarʿ), es sei denn, die rationale Vernunft unterscheide etwas als schlecht oder böse (qabīḥ) oder als obligatorisch (wājib) [7]. Dieser letztere Ansatz wurde zu einer allgemein akzeptierten Ansicht unter späteren schiitischen Gelehrten.


Es ist wichtig anzumerken, dass diese Diskussion ab al-Muḥaqqiq al-Ḥillī (gest. 676/1277 [8] unter dem Prinzip der fundamentalen Nicht-Bewertung (al-barā'at al-aṣliyya) in schiitischer Rechtstheorie diskutiert wurde; sie wurde wie folgt kategorisiert: Alle Dinge (al-ashyā') sind frei von islamischer Rechtsordnung, d.h. sie sind hinsichtlich der Ermangelung einer direkten oder expliziten Regelung im Wesentlichen erlaubt [9].

Allerdings ist al-Ġazālī (gest. 505/1111) vielleicht die erste Person, die den Begriff al-barā'at al-aṣliyya in seinem rechtstheoretischen Meisterwerk mit dem Titel al-Mustaṣfā fī Uṣūl al-Fiqh reichlich verwendet hat [10].


Autor*innen und Quellenangaben

Dieser Artikel wurde verfasst von: Mehrdad Alipour


Ġazāli, Abū Ḥāmid Muḥammad b. Muḥammad (1993). Al-Mustaṣfā minʿIlm al-Uṣūl. Muḥammad ʿAbd al-Ŝāfī (ed.). Beirut, Lebanon: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya.

Gleave, Robert. (2019). “Value Ontology and the Assumption of Non-Assessment in Postclassical Shiʿi Legal Theory.” In Philosophy and jurisprudence in the Islamic world. P. Adamson (ed.). Berlin, Germany: De Gruyter.

Ḥillī, Muḥaqqiq Najm al-Dīn Jaʿfar b. Ḥasan. (1983-4/1403H). Maʿārij al-Uṣūl. Muḥammad Ḥusayn al-Raḍawī (ed.). Qum, Iran: Mū’assasa Āl al-Bayt li Iḥya’ al-Turāṯ.

Ibn Qudāma al-Maqdasī, Mū’affaq al-Dīn Abū Muḥammad. (1423H/2002). Rūḍāt al-Naẓir wa Jannāt al-Manāẓir. ‘Abd al-Karīm Namla (ed.). Beirut, Lebanon: Mū’assasa al-Rayān li Ṭibāʿa wa al-Naŝr.

Jaṣṣāṣ, Aḥmad b. ‘Alī. (1994). Al-Fuṣūl Fī al-Uṣūl. Ajil Jasim (ed). Kuwait, Kuwait: Wizārat al-Awqāf.

Reinhart, A. K. (1995). Before Revelation: The boundaries of Muslim moral thought. Albany, NY: New York State University Press.

Šarīf al-Murtaḍā, Abū al-Qāsim ʿAli b. al-Ḥusayn. (1969-70/1348Sh). Al-Ḏarīʿa ilā Uṣūl al- Šarīʿa. Abū Qāsim Gurjī (ed.). Tehran, Iran: Intiŝārāt-i Dāniŝgāh-i Tehran.

Ṭūsī, Muḥammad b. Ḥasan. (1997-8/1376Sh). Al-ʿUdda fī Uṣūl al-fiqh. Muḥammad Riḍā Anṣārī (ed.). Qum, Iran: Intiŝārāt-i Sitāri.

  1. al-Jaṣṣāṣ, 1994, 3: 247.
  2. ibid, p. 249
  3. Ibn Qudāma, 2002/1423H , 1: 133.
  4. ibid, 1: 134
  5. Für weitere Debatten über dieses Thema in der Sekundärliteratur siehe Reinhart, 1995
  6. al-Ṭūsī, 1997-8/1376Sh, 2: 742.
  7. al-Šarīf al-Murtaḍā, 1969-70/1348Sh, 2: 809.
  8. al-Ḥillī, 1983-4/1403H, p. 213.
  9. Für eine extensive Diskussion über das Thema das fundamentale nicht-Bewerten in der Sekundärliteratur siehe Gleave, 2019.
  10. siehe beispielsweise al-Ġazālī, 1993, pp. 101, 103, 121, and 160.