Quelltext der Seite §14

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==Zeichenfunktionsklassen und Multifunktionalität==

(1) In vorausgehenden Paragraphen wurden drei Funktionsklassen von Zeichen vorgestellt:

:i) „Phonogramme“ (Lautzeichen), weiter unterteilt in: 

::a) „Einkonsonantenzeichen“ ([[§3]]),

::b) „Mehrkonsonantenzeichen“ ([[§11]]) und

::c) „Phono-<i>Repeater</i>“ ([[§13]]);

:ii) „Logogramme“ (Wortzeichen), weiter unterteilt in: 

::a) „autonome Logogramme“ ([[§9]]),

::b) „Radikogramme“ ([[§12#Abschnitt_4|§12 (4)]]);

:iii) „Klassifikatoren“ (Kategorisierungszeichen, [[§7]]).

:{| class="wikitable"
!rowspan="2"|  !!rowspan="2"| Phonogramme<br/>(Lautzeichen) !!colspan="2"| Semogramme<br/>(sinntragendendes Zeichen)
|-
! Logogramme<br/>(Wortzeichen) !! Klassifikatoren<br/>(Kategorisierungszeichen)
|-
|| <b>Lautung</b> || ja || ja || —
|-
|| <b>Bedeutung</b> || — || ja || ja
|}

{{Übergehbar-Beginn}}Anmerkung: Der entscheidende Durchbruch bei der Entzifferung der Hieroglyphen durch Jean-François Champollion (1822) bestand gerade darin, zu erkennen, dass nicht alle hieroglyphischen Zeichen Semogramme sind, sondern einige auch Laute wiedergeben. Auf der sog. Merenptah-Stele haben z.B. nur ⅓ der Zeicheninstanzen entweder eine logographische (10 %) oder klassifikatorische (13 %) Funktion; ⅔ der Zeicheninstanzen geben einzig und allein Laute wieder (Werning 1998).  {{Übergehbar-Ende}}


(2) Nun ist es aber so, dass viele hieroglyphische Zeichen <b>multifunktional bzw. mehrdeutig</b> sind, soll heißen: dass sie je nach Verwendungskontext eine von mehreren möglichen Funktionen oder eine von mehreren möglichen Lesungen haben können.

{{Übergehbar-Beginn}}Dieses ist vergleichbar mit unseren handschriftlichen Zeichen „<span style="font-family:Mistral">O</span>“ und „<span style="font-family:Mistral">-</span>“. So steht „<span style="font-family:Mistral">O</span>“ in „<span style="font-family:Mistral">Ofen</span>“ für den Laut /o/, aber für ‘Null’ in „<span style="font-family:Mistral">Tel. 030 2093 98101</span>“; und „<span style="font-family:Mistral">-</span>“ steht für ‘minus’ in „<span style="font-family:Mistral">6 - 2 = 4</span>“, aber für ‘bis’ in „<span style="font-family:Mistral">S. 3-6</span>“. Vergleichbar ist auch der Gebrauch von <i>h</i> im Deutschen: es steht für den Laut /h/ in <i>heiß</i>, aber in <i>kahl</i> zeigt es nur an, dass der vorausgehende Vokal lang gesprochen wird (/kaːl/). {{Übergehbar-Ende}}

:Beispiele:
:{| class="wikitable"
!  !! Zeichenfunktion !! Lautung !! Bedeutung !!{{Übergehbar-Style}}| Anmerkung
|-
|rowspan="2"| {{H|𓏟}} || Logogramm || {{U|zẖꜣ}} || ‘schreiben’ || 
|-
|| Logogramm || {{U|zẖꜣ(.w)}} || ‘Schreiber’ || 
|-
| rowspan="2"| {{H|𓅪}} || Klassifikator ||  || {{Klass|klein}} || 
|-
||  Klassifikator ||  || {{Klass|negativ}} || 
|-
| rowspan="2"| {{H|𓍋}} || Phonogramm || {{U|ꜣb}} ||  || 
|-
||  Phonogramm || {{U|mḥr}} {{Übergehbar-Beginn}} ||  ||{{Übergehbar-Style}}| (trad. {{U|mr}}, vgl. [[§19]]){{Übergehbar-Ende}}
|-
| rowspan="3"| {{H|𓇳}} || Logogramm || {{U|Rꜥ(w)}} || ‘(der Sonnengott) <i>Re</i>’ || 
|-
||  Logogramm  || {{U|sw}} || ‘Monatstag’ || 
|-
||  Klassifikator ||  || {{Klass|Sonne}} || 
|-
| rowspan="3"| {{H|𓅭}} || Phonogramm || {{U|zꜣ}} || 
|-
||  Logogramm  || {{U|zꜣ}} || ‘Sohn, Nachkomme’ || 
|-
||  Klassifikator ||  || {{Klass|Vogel}}  ||{{Übergehbar-Style}}|(in dieser Funktion austauschbar mit {{H|𓅬}})
|-
|| {{H|𓊹}}{{Übergehbar-Beginn}}{{H|𓏤}}{{Übergehbar-Ende}} || Logogramm || {{U|nṯr}} || ‘Gott’ || 
|-
|| {{H|𓊹}}{{Übergehbar-Beginn}}{{H|𓍿𓂋}}{{Übergehbar-Ende}} || Radikogram || {{U|nṯr(.ï)}} || ‘göttlich’ || 
|}

Darüber welche Zeichen wie logographisch gelesen werden können, geben hieroglyphische Zeichenlisten Auskunft, insbesondere die sog. <b>„Gardiner-Liste“</b> (Gardiner ³1957: 438ff.).


{{Kann übergangen werden|Der folgende Abschnitt}}  

(3) Es tut sich natürlicherweise die Frage auf, wie man in einem konkreten Fall jeweils entscheiden kann, welche der verschiedenen Funktionen bzw. Lesungen jeweils zutrifft. Zunächst kann man beruhigend sagen, dass in der Praxis kaum je ein Zweifel über die zutreffende Lesung eines bestimmten Zeichens in einem konkreten Text besteht. Wie kann das sein?

a) Klassifikatoren können helfen mehrdeutige Logogramme zu unterscheiden. Vergleiche:

:{| class="wikitable"
|| {{H|𓏞𓏛}} || vs. || {{H|𓏞𓀀}}
|-{{HieroFunk-Style}}
|| {{Us|zẖꜣ}}|{{Kap|schreiben}}/<del><b>{{Us|zẖꜣw}}|{{Kap|Schreiber}}</b></del>{{Klass|-Schrift}} 
||  
|| <del><b>{{Us|zẖꜣ}}|{{Kap|schreiben}}</b></del>/{{Us|zẖꜣw}}|{{Kap|Schreiber}}-{{Klass|Mann}}
|-
|| {{U|zẖꜣ}} ||  || {{U|zẖꜣ(.w)}}
|-
|| ‘schreiben’ ||  || ‘Schreiber’
|}

b) Phonetische Komplemente helfen auf die richtige Lesung von Mehrkonsonantenzeichen zu kommen. Vergleiche:

:{| class="wikitable"
|| {{H|𓍋𓃀𓏏𓀀𓁐𓏥}} || vs. || {{H|𓍋𓅓𓂋𓅪}}   
|-{{HieroFunk-Style}}
|| {{Us|ꜣ<b>b</b>/<del>mḥr</del><b>:b</b>-t-}}{{Klass|Menschenmenge}} ||  || {{Us|<del>ꜣb</del>/<b>mḥr:m:r</b>-}}{{Klass|negativ}}  
|-
|| {{U|ꜣb.t}} ||  || {{U|mḥr}}  
|-
|| ‘Familie’ ||  || ‘krank’ 
|}

c) Die Mehrdeutigkeit eines Klassifikators stellt für die Identifizierung und Lesung eines Wortes effektiv nie ein Problem dar, da die genaue Bedeutung für die Identifikation des Wortes nicht ausschlaggebend ist und der Klassifikator nicht mit transkribiert wird. Siehe beispielsweise:

:{| class="wikitable"
|| {{H|𓂝𓈖𓆓𓅪}} || oder || {{H|𓉔𓂋𓅱𓇳}}  
|-{{HieroFunk-Style}}
|| {{Us|ꜥ-n-ḏ-}}<b>{{Klass|klein/negativ}}</b> ||  || {{Us|h-r-w-}}<b>{{Klass|Sonne/hell}}</b> 
|-
|| {{U|ꜥnḏ}} ||  || {{U|hrw(w)}} 
|-
|| ‘wenig sein, mangelhaft sein’ ||  || ‘Tag’ 
|}

d) Die Funktion als Mehrkonsonantenzeichen erkennt man zumeist daran, dass ein passendes Phonetisches Komplement dahinter oder davor steht. Vergleiche:

:{| class="wikitable"
|| {{H|𓊃𓅭𓄿𓂡}} || vs. || {{H|𓄿𓊪𓂧𓅱𓅭𓏥𓅓𓊪𓏏𓇯}}
|-{{HieroFunk-Style}}
|| <b>{{Us|z:zꜣ}}</b>/<del>{{Klass|Vogel}}</del>:{{Us|<b>ꜣ-</b>}}{{Klass|hüten}} ||  || {{Us|ꜣ-p-d-w-<del>zꜣ</del>}}/<b>{{Klass|Vogel}}</b>-{{Klass|Menge}}  {{Us|m  p-t-}}{{Klass|Firmament}}
|-
|| {{U|zꜣ(w)}} ||  || {{U|ꜣpd.w m p.t}}
|-
|| ‘hüten’ ||  || ‘Vögel im Himmel’
|}

{{Literaturhinweise-Beginn}}
Allen (²2010: Kap. 3.5); Schenkel (⁵2012: Kap. 3.1); Kammerzell (in: Linke 2011: Anhang 2); Polis & Rosmorduc (2015).
{{Literaturhinweise-Ende}}

{{Übungsverweis|Übung 3|Zeichenfunktionen}}

{{Zitieren}}

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